Alexanderplatz

Mitten in Berlin bilden Menschen aus Trümmern ihrer selbst vorübergehend Häuser, errichten spontan ein Obdach und wärmen es mit ihren  Geschichte

Seit Ende April 2010 bin ich einmal in der Woche auf dem Berliner Alexanderplatz. Hier treffen sich die, deren Leben aus dem Gleis geraten ist. Die, die anders geworden sind, oft ohne dass sie es wollten, die mit den Rastern der Gesellschaft nicht klarkommen – unfähig, deren Regeln zu akzeptieren. Einige sind Punks oder haben sich eine andere Schutzidentität zugelegt. Manche würden im normalen Straßenbild nicht weiter auffallen, außer dass sie viel Zeit zu haben scheinen. Etliche sind wohnungslos oder ohne jedes Obdach. Immer wieder sind einige von ihnen in Haft, viele nehmen Drogen, alle trinken sehr viel.

Was passiert, wenn die Enge von Familien, die keine mehr sind, nicht mehr zu ertragen ist? Wenn Desinteresse, Gewalt, manchmal auch emotionale Verwahrlosung das eigene Leben beschädigt? Wenn man sich finden will, fernab von dem, was anderen schon missglückt ist? Man gehorcht dem Fluchtreflex und geht in die weite Welt. Die weite Welt, das ist für viele Berlin und der Alexanderplatz ist der Ort, an dem Ausreißer und Gestrandete, Vagabunden und Crash-Kids eine Gemeinschaft bilden. Sie treffen hier auf Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die erste Überlebenstipps und manchmal auch eine Übernachtung geben.

Die meisten von ihnen sind sehr jung. Manche sind erst dreizehn und schon von zu Hause weggelaufen. Selten trifft man Menschen über Dreißig. Das Leben auf der Straße ist anders, manchmal schillernder, oft brutaler als das was der Normalbürger erlebt. Kinder werden schnell erwachsen und Erwachsene schnell alt.

Die Szene im Schatten des Fernsehturms übt eine starke Sogwirkung auf alle aus, die sich ihr nähern. Äußere Perspektivlosigkeit in dieser effizienten Gesellschaft und die innere Trostlosigkeit sorgen dafür, dass die Regler des Lebensgains aufgedreht werden. Übersteuerte Verstärker, deren Verzerrungen einen singenden Ton abgeben. Die Menschen verändern sich, passen sich den neuen Bedingungen an, werden lauter und verhärten, um nicht wieder zu zerbrechen.

Die Bedingungen der Arbeitswelt sind fern und oft passen die Menschen vom Alex auch nicht mehr in die Systeme der sozialen Fürsorge. Obdachlosigkeit ist ein Zustand, der für mich nur im Ausnahmefall das Schlafen im Gebüsch bezeichnet. Obdachlosigkeit ist die eigene Unbehaustheit in einer Welt, die man nicht mehr versteht. Sie ist das Fehlen von Bezügen zur Gesellschaft, ist das Abschneiden von Verbindungen zu Menschen, deren Regeln und Rituale man als sinnlos und somit leer empfindet.

Wer Einschneidendes erlebt hat – oft mit Bezugspersonen, denen man anvertraut war – kann dem, was man normale Welt nennt, kein Vertrauen mehr entgegenbringen. So orientiert man sich an den anderen Schiffbrüchigen des Platzes, nimmt deren Regeln an, weil diese durchschaubar sind und selten jemand aus dem Hinterhalt agiert. Der Alexanderplatz bedeutet Schutz, auch wenn gelegentlich Blut fließt. Man umarmt sich, wenn man auf den Alex kommt. Die  Menschen sind hier, weil sie nicht vereinsamen wollen. Fremden gegenüber sind sie deshalb offener, als man es erwarten würde.

Wenn ich dort bin, dann oft vom Nachmittag bis spät in die Nacht. Ich bin da mit meiner ganzen Person. Nicht nur als Beobachter, sondern auch als Teilnehmender. Ich trinke mit und sie erzählen mir ihre Geschichten, parken sie bei mir, der zuhört und manchmal danach aber nicht weiß, wie er mit dem Wissen über diese Leben umgehen soll.

Manchen vertraue ich, es sind oft die Älteren: der dünne Meph mit seinem verstehenden Blick, Jennis mit ihrer ruppigen Herzenswärme, Paule, dem Punk, der inzwischen nur noch auf Krücken kommt, Jule, der Borderlinerin, deren Herz im Wind flattert und René, dem Stillen aus dem Knast.

Das, was ich hier erlebe, ist oft verwirrend, selten eindeutig. Das Verständnis für Begebenheiten würde eine lange Vorkenntnis der Geschichten erfordern, die keiner hier haben kann – präsent sind immer Wirkungen und die Ursachen bleiben im Dunkeln. Was aber keinen weiter zu stören scheint.

Das, was mir erzählt wird, finde ich selten in den Portraits, die ich fotografiere. Den Schmutz, die Gewalt, die seelischen Verletzungen, die das Leben vieler bestimmen, kann ich nicht als gültiges Bild festhalten. Zu komplex ist diese Realität. Bilder sind nur Bilder und finden im besten Fall zu ihrer eigenen Wirklichkeit – dessen bin ich mir bewusst und füge der fotografischen Arbeit Texte hinzu. Ich abstrahiere und transformiere was ich am Alexanderplatz vorfinde. Und dennoch entsteht ein ebenso gültiges Bild der Szene, weil sich durch den Prozess der Loslösung die Fragestellungen erweitern. Ich kann keine Wahrheit aufdecken und will auch keinen Schleier lüften. Ich möchte etwas zeigen.

In meinen Portraits geht es um die Wiedererlangung von Würde. Ich möchte in den Bildern etwas freilegen, was man oft verschüttet glaubt: innere Integrität, Selbstbewusstheit und auch Schönheit. Schönheit dort, wo man sie kaum erwartet.

Der Alexanderplatz ist nicht nur ein Ort, er ist ein Zustand, der sich dem Vorübergehenden nicht so leicht offenbart.  Dass sich hinter den Gesichtern einzelne Schicksale verbergen, nehmen die Passanten oft nicht wahr, weil man dem, der einen um Kleingeld anschnorrt, nicht ins Gesicht sieht.

Nicht-Allein-Sein als kleinster gemeinsamer Nenner. Irgendjemand ist immer da. Die Tage vergehen, die Zeit spielt kaum eine Rolle. Oft ist es unmöglich, sich zu verabreden: morgen, das ginge gerade noch, aber übermorgen?

Göran Gnaudschun

Potsdam, September 2011