Göran Gnaudschun
Rede über „Festland“ zur DFA-Tagung
26.11.05 in den Hamburger Deichtorhallen

Der geografische Mittelpunkt Europas liegt 25 km nördlich von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt. Ich möchte Ihnen mit „Festland“ das Ergebnis einer Reise vorstellen, die mich im Sommer 2004 durch dieses Mitteleuropa, das wir gemeinhin Osteuropa nennen, führte. Mit einem Stipendium des DAAD war ich von der estnischen Hauptstadt Tallin bis in den Süden nach Ljubljana in Slowenien unterwegs.

„Festland“ ist weder eine Beschreibung von Ländern, Sitten und Gebräuchen unserer Nachbarn noch ist diese Arbeit als Tagebuch zu lesen; die Arbeit „Festland“ ist eher die Verdichtung eines Gefühls, einer Empfindung, die sich aus verschiedenen Quellen – historischen und persönlichen, landschaftlichen und gesellschaftspolitischen, aus Erlebtem, Gelesenem und Fiktivem – speist.

Diese Fotografien entstanden einerseits aus dem Gefühl des Fremdseins, des Unterwegsseins und auch des Unbehaustseins, das mir Wege zu neuen Bildern eröffnet hat. Einer meiner Ausgangspunkte war es, nie länger als 3 Tage an einem Ort zu bleiben, um keine Gewöhnung, kein Einleben in die ortsüblichen Gegebenheiten zu haben, kein familiär werden, um frei zu bleiben, um immer wieder neu und unverbraucht auf diese, mir fremde Wirklichkeit zu blicken. Reisender zu sein, der die Dinge im Fluss erlebt. Begibt man sich allein auf Reisen an fremde Orte, wo Menschen Sprachen sprechen, die man größtenteils nicht beherrscht, entsteht ein flittriger, unsicherer Zustand, die Welt scheint ähnlich zu funktionieren, aber diese Ähnlichkeit beinhaltet auch Unterschiede, die man aushalten muss. Von Festland redet man nur, wenn man wackligen Boden unter den Füßen hat. Durch die Kontaktarmut des Alleinreisenden entsteht eine Sensibilisierung, eine Empfindsamkeit, die in den Fotografien ihren Ausdruck finden kann.

Die Dinge, die ich fotografiert habe sind oft gewöhnlich, unscheinbar, höchstens durch besondere Lichtstimmungen hervorgehoben. Es sind Gebüsche, Waldstücke, Häuser, Innenräume, Hügel und Uferstücke, Menschen sieht man nur von weitem, es sind Fragmente die die Taschen des Reisenden füllen.

Für das bessere Verständnis meiner Arbeit, möchte ich Ihnen meine Arbeitsweise und mein gedankliches Herangehen an Fotografie näherbringen.

Meinem ursprünglichen Konzept, den Umbruch in Osteuropa zu fotografieren, dem zweiten nach 1989/90, um das politische Auf- und das wirtschaftliche Zusammenbrechen, die Konkurrenz der ganzen EU gegen eher schwache Ostländer, um die Menschen, die sich wieder umorientieren müssen, und so weiter, darzustellen, stand ich schon vor der Reise zunehmend skeptisch gegenüber. Es war ein schlüssiger Plan, um diese Reise zu begründen. Aber kann dies alles Fotografie überhaupt leisten? Vor komplizierten, nichtvisuellen Sachverhalten muss Fotografie kapitulieren, weil sie schnell in die offene Falle der Simplifizierung der Welt laufen würde. Fotos, gerade die der Reportagefotografen, die jetzt lt. Prof. Klaus Honnef Einzug in die Museen finden sollen, versuchen oft, etwas auf den Punkt zu bringen; die Welt, das Thema, das Sujet zu vereinfachen, indem sie es verdichten auf eine prägnante Situation, auf einen „eye-catchenden“ Moment hin. In diesem Moment klärt sich aber nichts, die Fotografie kann wie eine Schneedecke die Wirklichkeit verhüllen. Nehmen wir das Beispiel eines hungernden Kindes in einem afrikanischen Land, das im Moment der Aufnahme mit großen, traurigen Augen in die Kamera blickt. Der nächste Moment sieht wieder anders aus und hätte der Fotograf sich umgedreht und ein Bild gemacht, hätten wir, statt dem hungernden Kind den schon wartenden Hilfskonvoi oder Soldaten einer Miliz oder eine bilderhungrige Schar aus anderen Fotografen, Filmleuten und Journalisten der schreibenden Zunft gesehen. Die Kollegen werden immer ausgeblendet um die vermeintliche Reinheit des Geschehens nicht zu stören. Vielleicht hätte man sich dann damit beschäftigen können, wie Nachrichten gemacht werden und wie man Ereignisse aus welchem Grund produziert.

Als ich mit der Fähre in Tallin ankam, merkte ich schnell, dass mein Konzept ohnehin für den Papierkorb gewesen wäre, hatte sich doch der wirtschaftliche Rollover des Westens längst vollzogen, die einheimischen Firmen gab es schon seit der Mitte der 90er nicht mehr. An den Orten, an denen mich der Reiseführer vor rauchenden Schloten, Radioaktivität und Gift in der Luft gewarnt hatten, war grasüberwachsene Ödnis. Für mich kann Fotografie die wirtschaftlichen und politischen Ursachen nicht erklären, sie kann aber etwas völlig anderes leisten: sie kann von Leerstellen handeln, von etwas offen Gelassenem, sie kann Projektionsräume für den Autor und für den Betrachter bieten.

Ich war der Suchende, Wanderer in einer mir fremden Wirklichkeit, die von der Wirklichkeit, die sich in den Bildern findet, deutlich getrennt werden muss. „Festland“ erzählt wahrscheinlich kaum etwas über Osteuropa „wie es wirklich ist“. Es gibt keine Geschichte, aber wenn, dann spielt sie in einem imaginären Raum. Die Bildwirklichkeit existiert nur in meinen Vorstellungen, aber: sie speist sich aber aus dem Erlebten und der emotionalen Verfasstheit, die direkt mit dem osteuropäischen Raum zu tun hat.

Was ist dieses Osteuropa-Gefühl, das in „Festland“ einfließt und von dem jeder Reisende in immer neuen Nuancen erzählt? Wahrscheinlich ist es die Gesamtheit verschiedener unzusammenhängender Faktoren: Es ist das ewige Unfertigsein, das starke Auseinanderklaffen von Arm und Reich, die unermessliche Weite und die Zeit, die sich in ihr zu dehnen scheint, die ständige Präsenz des 2. Weltkrieges und seiner Folgen: Spuren und Narben davon lassen sich nicht verdecken, es sind die Menschen, die nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums ohne Zukunft weiterleben und die Menschen, die überaus geschäftig an ihrer Zukunft basteln. Deutsche und russische Siege und Niederlagen. Es ist das Festland, das bei hohem Wasser von allen Seiten überspült wird, immer wieder aber zum Vorschein kommt.

Es geht mir in den Bildern um eine bestimmte Intensität. Das Unfertigsein, die Brüche, die in den bereisten Ländern spürbar werden, fügen der eigenen Fremdheit und der Unbehaustheit die nötige Energie zu. Es gibt kein Konzept, sondern es ist das Stimmungshafte, das Erlebnis und das Spontane, das die Arbeit ausmacht. Subjektivität, die von der Äußerlichkeit der Dinge zur Innerlichkeit des Bildes führt.

An einem bestimmten Ort habe ich zu einer bestimmten Zeit ein Bild gemacht – beides ist aber nebensächlich, da das jeweilige Bild nicht typisch für einen bestimmten Ort ist. Manchmal müssen die Bilder frei sein von Geschichten und direkten Orten. Scheinbar bedeutungslose Dinge werden sich unter einem bestimmten Licht, aus einem bestimmten Blickwinkel zu etwas eigenem transformieren, einer eigenständigen Idee, die nur aus dem Bild selber kommt. Wenn bestimmte Dinge auf mich einen Reiz ausüben, in mir die Energie auslösen, die es braucht, um ein Bild zu machen, dann könnte sich das als Spannung im Bild potenzieren um als Fläche, Form und Farbe assoziativ wieder andere Energien beim Betrachter auszulösen. Es geht weniger um ein Verstehen, mehr um ein emotionales Teilhaben am Bild. Man kann die Assoziationsräume, die ich biete, für sich nutzen.

Am Ufer des Peipussees, einem Binnenmeer zwischen Russland und Estland, 10 mal so groß wie der Bodensee, kann es Regen geben, sehr viel sogar. Soviel, dass die Grenzen zwischen Wasser und Festland labil werden, durchlässig für das andere Element. Ich möchte den Betrachter berühren in dem Sinne, dass man, wenn man die Bilder sieht, an etwas lang Bekanntes, aber verschüttet Geglaubtes erinnert wird. Dass man in der Normalität eines Gebüsches, eines Hauses oder einer Wolke Eigenes und Fremdes, Bekanntes und Erdachtes, Tagträume und Realitäten zusammenführt. Man erinnert sich an etwas, von dem man nicht weiß, ob es wirklich erlebt oder nur einmal intensiv geträumt wurde.

Eine Fotografie sollte man nicht nur als Abdruck der Wirklichkeit betrachten, sondern auch als deren inzwischen eigenständigen Teil; alles was für mich wichtig ist, spielt sich im Inneren des Bildes und im Inneren des Betrachters ab. Eine permanente Gegenwart, die nur durch den Betrachter Vergangenheit und Zukunft erfährt. Wir zeigen nicht immer alles, was wir wissen; und manchmal wissen wir auch nichts, über das was wir zeigen. Vielleicht könnte man das mit dem Wort „Bildwissen“ umschreiben. „Bildwissen“ als ein von der Intention und der Erfahrung des Künstlers abgelöstes Wissen im Bild, das mehr sein kann, als das, was der Autor hineingelegt hat.

Es gibt Fotografien, gerade im Bereich des Portraits, auf denen manchmal alles klar erscheint, als hätte man etwas von den Menschen begriffen, es gibt aber Bilder von Dingen, Menschen, Orten, die alles rätselhaft erscheinen lassen, die statt zu klären auch nicht verklären, sondern uns bewusst machen, dass die Welt, die Wirklichkeit undurchschaubar ist. Es gibt zwar Klassen-, Kultur-, Glaubens- und Wirtschaftsverhältnisse, aber auch dadurch kann sie nicht bis ins letzte erklärt werden. Um das bewusst zu machen, muss man keine wirren oder beliebigen Bilder schaffen, sondern es ist die Ordnung von Teilen der Bildwirklichkeit, die im Bild Dissonanzen und Harmonien entstehen lassen. Sie sollen dann im Betrachter etwas auslösen und können im Zusammenspiel aller Bilder der Serie zu diesem Punkt der Undurchschaubarkeit und Rätselhaftigkeit führen. Bildet doch das Rätsel, das nicht letztlich Erklärbare einen der stärksten Reize auf den Intellekt und die Emotionalität des Betrachters.

Ich bin am Bild interessiert, das der Wirklichkeit entstammt, ohne die es nicht entstanden wäre. Der Hof, der Baum, der Plattenbau, die Autos, der Mann unter dem Baum und die Frau, die im Vorgarten wühlt, sind, obwohl eindeutig identifizierbar, doch Bestandteile eines Bildes – Kornzusammenballungen, die ergeben, dass man den Mann und die Frau zu erkennen glaubt. Fotografien sind wahrheitsgetreue Trugbilder. Wie Bilder im allgemeinen verweisen sie zuerst auf sich, dann auf den Betrachter, der nach Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie nur das in Bildern sehen kann, was sich seinem Erfahrungsraum wenigstens annähert und dann auf das Stück Wirklichkeit, das rein physisch-indexikalisch mit der analogen Fotografie verbunden ist.

Die Präsenz der Dinge in der Fotografie bedeutet gleichzeitig deren Absenz, selbst wenn sie noch da sind, werden sie nie wieder in diesem Licht erscheinen.
Ich möchte kurz auf ein Bild dieser Arbeit verweisen. Wir befinden uns in Narva, das am Fluss Narva gelegene östlichste Ende des europäischen Imperiums. Wir sehen über den Fluss, die untergehende Sonne wird von den gegenüberliegenden Häusern reflektiert. Würden wir nach rechts sehen, würden wir auf der russischen Seite die Festung Ivangorod, auf der estnischen Seite die Herrmannsfestung erkennen können, die sich schon im Mittelalter als Außenpunkte jeweils anderer Reiche, anderer Kulturen, anderer Glaubensrichtungen trutzig gegenüberstehen. Eine Grenze hat nach fast 1000 Jahren hier wieder ihren Halt gefunden. Sieht man aber nach hinten, blickt man auf ein ähnliches Ensemble, wie das, was man auf diesem Bild vorfindet. Direkt vor sich hat der Reisende einige Flaschen Bier, die ihm gegen die Einsamkeit helfen sollen. Er tut es damit aber eigentlich allen gleich, die neben ihm und weiter weg auf ebensolchen Bänken sitzen und überhaupt nicht einsam sind. Dort, wo die Grenze ist, hat sich das hier und drüben durch die Geschichte angeglichen. Es wir russisch gesprochen, getrunken, gelacht und gedacht. Es wird dunkler und die Bänke beginnen sich zu leeren.

Kommen wir wieder zu der Frage, was dies mit der Fotografie zu tun hat. Nimmt das Weggelassene, nicht Abgebildete, das Vorher und Nachher daran teil? Kann das „Off“ (nicht nur das räumliche, sondern auch das zeitliche) nicht auch Teil des Bildes werden? Würde ich das Bild überhaupt machen, wenn es daneben und dahinter, davor erlebtes und gedachtes nicht geben würde, oder wenn es einfach anders wäre? Wahrscheinlich nicht, weil man nur in einer bestimmten emotionalen Verfassung bestimmte Bilder macht; von der der Betrachter aber nichts wissen muss. Es genügt, dass er dem Künstler vertraut, der ihm etwas zeigt.

Es geht nicht um ein Ausschneiden, um zu vereinfachen, sondern um den Weg freiräumen zu können – zum „Einsteigen“ in das Bild. Es geht darum, die nötige Offenheit für Imagination und Erkenntnis, im besten Fall auch Selbsterkenntnis zu erzeugen. Die Komplexität der Welt in vielleicht einfachen Bildern zeigen. Das Bild als Reflexionswand betrachten, um den Betrachter in den Nachhall von Stimmungen, Gedanken, Erinnerungen und Fiktionen
zu bringen.

Diese Wand kann ich aufstellen, aber ich kann nicht die Welt erklären, auch nicht das östliche Mitteleuropa. Ich habe Dinge gesehen und Bilder mitgenommen. Ich habe die Taschen geleert.
Fundstücke.

Potsdam, 25. 11. 2005