Berliner Blau oder Görans Blues
Haus am Kleistpark, 16. Juli 2020
Jochen Stöckmann
Göran Gnaudschun ist ein eigenwilliger Fotograf und er wird – mit dieser Ausstellung – ein ganz schwerer Fall, wunderbar kompliziert.
Dabei hatte ich doch gar nicht den Anfängerfehler gemacht und nach der Kamera gefragt, mit der er arbeitet. Aber noch bevor wir unseren gemeinsamen Parcours gestartet haben, erklärt mir der Fotograf:
„Handyfotos, Fotos mit der sehr teuren Digitalkamera, mit der analogen Hasselblad und mit einer kleinen Olympus MJU II, so eine analoge Seifenschachtel – die Arbeiten könnten eigentlich von fünf verschiedenen Fotografen sein.“
Das wäre eine Heidenarbeit, fünf verschiedene Fotografen in einer – hoffentlich nicht allzu langen Rede. Obwohl: bei Göran habe ich carte blanche, meine Fünfminüter im Radio findet er immer „viel zu kurz“, vor allem wenn es um Fotografie geht.
Und schließlich habe ich ja auch die „zentrale Aussage“ zu dieser, von den gewohnten Porträtserien oder den thematisch fokussierten Reihungen abweichenden Auswahl:
Ich habe bewusst vermieden, dass sich wie bei meinen vorherigen Arbeiten ein Stil durchzieht. Cyanotypien“ – auf diese alte Technik kommen wir noch zurück – „Farbe, Schwarzweiß, Blau, dazu das Klare und das Wilde und das Verschwiemelte – dieses Durcheinander folgt dem Leben.“
Daher also weht der Wind: I follow rivers – der Fotograf folgt dem Fluss, den Flüssen des Lebens. Und ich hatte gedacht, es geht um Bilderströme, die digitale Bilderflut, der Göran folgt – nicht hinterherhechelt! – um einzelne Bilder, seine Bilder herauszuholen, sozusagen zu retten:
Etwa so, wie einer meiner Lieblingsdichter seine Eindrücke flugs notiert, um die besondere Intensität dieser Augenblicke, dieser nicht nur visuellen Erlebnisse auf jeden Fall aufzubewahren. Das hört sich dann so an:
„Wege; blutrote Flecken des Dunklen Mauerpfeffers, Ranken der Waldrebe, Wärme der untergehenden Sonne.“ (Philippe Jaccottet)
Nur wenige Worte, aber wie gemacht für die Bilder dieser Ausstellung: Karge und deshalb so eindringliche Poesie, keine Erläuterungen oder Erklärungen – die würden den Augenblick verändern, die Bilder stören, den Eindruck zerstören.
Um das Bild an sich aber geht es Göran, nicht um einen ausgeprägten Stil. Der kommt erst durch die Hängung, durch die Kombination von fünf, sechs Formaten – gerahmt in Eichenholz oder als leichtes, fast flatterhaftes 160g-Papier an die Wand genagelt. Und durch diesen Mix der Motive – der einer geheimen, womöglich unbewussten Ordnung folgt. Ästhetisch, formal, inhaltlich? Wir wissen es nicht, glücklicherweise – denn zu viel Wissen schadet der Neugier.
Also erst einmal nur hingeschaut – auf dieses knallige Blau, das alles dominiert, ob nun wilde Petersburger Hängung oder sorgsam austarierte Reihung. Das eben ist die bereits erwähnte Cyanotypie. Damit hat der Fotograf einige Versuche gemacht – und genau das gefunden, was er suchte: wie die Maler ein Bild zu schaffen, das unbestimmt ist. Also nicht bewusst unscharf fotografieren – das mag Göran als Brillenträger überhaupt nicht – sondern im Nachhinein, beim Abziehen, Printen oder Vergrößern die Bedeutung möglichst unbestimmt, ungeklärt lassen, das Bild zu öffnen für Assoziationen.
Wie ein Schleier legt sich also dieses Blau über die Bilder – und das war gar nicht so einfach, denn mit Cyanotypien gelingen – so O-Ton Göran – „ganz knackige Bilder“. Das Schwierige war, diese Schärfe wieder zurückzuführen, es schlierig, unbestimmt hinzubekommen.
„Ich habe ja viel probiert, man kann damit ganz knackige Bilder erzeugen. Aber das Schwierige war, das wieder zurückzuführen. Es wieder so schlierig, so unbestimmt hinzubekommen. Denn Cyanotypien sind Unikate, dasselbe Bild lässt sich nicht zweimal produzieren. Man steigt ja auch nicht – I follow rivers – zweimal in denselben Fluss.“ Womit wir wieder beim Titel wären, in Görans Sicht:
Für ihn markieren diese 63 Bilder Lebenssituationen, in denen Umbrüche stattfinden. Wo man auch desorientiert ist. Wo innere Bilder – ganz ohne Kamera – entstehen: Der Fotograf steht in einer Landschaft mit verhangenem Himmel, kann sich nicht an der Sonne orientieren, kennt die Richtung nicht. Wenn man dann versucht, eine Orientierung zu finden, sollte man – so der Pfadfindertipp –Flüssen folgen. Denn die führen irgendwann zu bewohnten Behausungen.
Aber bis dahin bewegen wir – die Betrachter dieser Bilder – uns im Unbestimmten, Ungefähren – unter verhangenem Himmel. Und dazu spielt der Fotograf – die Cyanotypien stechen hervor im sogenannten „Berliner Blau“ – dazu spielt Göran seinen Blues. Französisch heißt der Blues „vague à l’âme“, also wörtlich übersetzt die Seele in der Welle … oder im Vagen, Ungefähren.
Keine Angst, es gibt ein paar Anhaltspunkte, keine Bilderklärungen, keine Ausdeutungen, aber dezente Hinweise: Etwa dieses Foto eines hellen Geländers, das in ein dunkelbraunes Irgendwo führt. Göran hat es ausgewählt aus einem Fundus, der seit 2015 sozusagen „nebenbei“, am Wegesrand entstanden ist, weil er Bilder mag, die ins Dunkle gehen, wo man nicht genau alles erkennt, den Vordergrund nicht genau wahrnehmen kann. Diese Bilder, die wegtauchen, wo sich innerhalb einer Ausstellungswand ein Schlund auftut, treffen auf Fotos, die eine große Klarheit haben.
Eine weitere „Spannungsquelle“ sind die Formate. Die kleinsten Fotos haben etwa Polaroid-Größe, wirken – ungerahmt – beiläufig, spielerisch. Aber nicht verspielt, denn vor allem diese Bilder haben eine zentrale Funktion: sie signalisieren, dass der Fotograf sich nicht allzu ernst nimmt, sich nicht in den Vordergrund spielt. Und das ist wichtig, denn es geht ihm um Gefühle, um kleine Bilder … und große Worte wie Schwermut und Leichtigkeit, Freude und Trauer, Liebe und Schmerz. Das endet – als „Anliegen“ oder gewollte „Aussage“ – schnell mal im Kitsch. Aber nicht bei diesem Fotografen, der voll auf Risiko, also ganz auf seine Bilder setzt. Und auf lakonische Titel mit Ortsangabe und Jahreszahl.
„Straßenlaterne, Potsdam“, das ist banal. „Bett, Lissabon“, da steckt womöglich mehr – oder jemand? – dahinter. Das bleibt Spekulation, denn wenn Göran seine Bilder mit Bedeutung auflädt, dann immer fein dosiert. So dass er selbst, ganz ohne Eitelkeit, sagen und behaupten kann:
„Mit Bedeutung aufgeladen? Ja, mag sein. Aber wenn die Arbeit gut ist, schafft sie dem Betrachter mehr Freiraum als ich, der Fotograf, geben kann. Der Betrachter darf durchaus klüger sein als ich.“
Und er wird ja auch nicht überrumpelt, der Betrachter. Sondern auf eine, auf viele Fährten gesetzt durch scheinbar zufällige Bildkombinationen: Flügel, goldene Engelsflügel, neben Händen in Großaufnahme, das hat sicher etwas zu bedeuten. Aber was? Dem Fotografen war es anfangs selbst nicht bewusst. Etwas ist ihm aufgefallen, vor Jahren. Er hat es fotografiert – und sieht jetzt erst, beim Sortieren einer bereits auf 300 Motive „zusammengedampften“ Auswahl, weshalb es wichtig war, diese Aufnahme zu machen. Dann wird das Bild mit anderen Fotos kombiniert, in ein Verhältnis gesetzt.
Und plötzlich tauchen Wiederholungen auf. Wolken oder Sonnenaufgänge. Und das, so sagt Göran, seien keine Ausrutscher, das war damals ernst gemeint. Und es ist heute wichtig, dass sich diese Motive wiederholen. Vorzugsweise als Paarung: zwei Schnapsgläser, zwei Personen, zwei Sonnenuntergänge, zwei graue Kapuzenjacken. Die stehen, lakonisch fotografiert, ganz für sich – und für ein Lebensgefühl:
„Was sich auflöst, sich wieder neu findet, neu zusammenkommt. Neue Möglichkeiten, die sich auftun.“
So sagt es wörtlich – und fast philosophisch – der Fotograf. Und dann erklärt Göran auf seine bekannte, anschauliche Art: „Da war ja kein Konzept von Anfang an wie bei der ‚Arbeit Are You Happy?‘ also in der Form von: ich fotografiere eine bestimmte Gegend und bin neugierig auf die Leute, die dort sind. Mit dieser Ausstellung ist es eher so, dass ich gucke, was in mir drin ist.“
Und da überlege ich dann doch, denke sozusagen ein wenig weiter: Rom ist und bleibt ja wichtig, denn man sollte eine Stadt schon selbst erleben, man muss die eigenen Erfahrungen suchen, um so etwas wie Authentisches, Unvermitteltes zu finden. Sonst wirken Fotos wie ein Surrogat, wie Realitäts-Ersatz, der die eigene Anschauung überflüssig macht.
Schlimmer noch, bei Fotografen die ihre Motivsuche krampfhaft an den eigenen, eingefahrenen Bildvorstellungen orientieren und das „Innere“ ausschalten, stellt sich eine fatale Immunisierung, eine Abschottung ein: Sie werden bilderblind, sind nicht mehr wach und offen für die visuelle Erfahrung, auf die es ankommt.
Hier, mit dieser Ausstellung, wird der Betrachter dagegen geweckt. Etwa durch das Foto einer grell leuchtenden Flamme neben der scheinbar banalen Aufnahme einer Wohnzimmer-Tür. Diese Tür, das erzählt der Fotograf, habe ihn magisch angezogen in einem Museum in Rom, im Haus der Kriegsversehrten, eingerichtet nach dem Ersten Weltkrieg. „Hinter der Tür war das Büro des Direktors, der hatte keine Hände mehr und war blind. Und er hatte eine Assistentin, die hielt ihm die Zigaretten an den Mund. Das war in den 1930er Jahren – aber es stank darin immer noch nach Rauch“, das fand Göran faszinierend.
Wie soll der Betrachter das erahnen? Das riecht er nicht, das sieht er nicht. Aber er ahnt womöglich den Impuls des Fotografen: eine rätselhafte Tür, ein banales, aber ganz klares Bild. Das macht neugierig. Und das war die Hauptarbeit: nicht der Bildinhalt, der einen anzieht – oder überwältigt – sondern die Bedeutung hinter dem Bild, vielleicht auch etwas versteckt, die dann durch die Hängung wieder hervorgekitzelt wird.
Denn was ist „Bildermachen” – und vor allem auch „Bilder-Ausstellen“? Wie oder wo bewegt sich der Fotograf (der im Bilder-Universum gestrandete Autor) im zersplitterten Raum des Cyberspace. Selbst wenn er als Don-Quichotte-Figur die geist- und seelenlose Bildermaschinerie der (nicht einmal surreal) glänzenden & glitzernden „Realität“ negiert, wird er dann nicht von immer drastischer auftretenden merkantilen, kommerziellen Interessen zerrieben? Ist der selbständige, künstlerisch agierende Fotograf ein Anachronismus?
Er ist es, solang er das Wesen des Bildes ignoriert, solang er das Medium, in und mit dem er sich bewegt, nicht zum Kompass seines Vorgehens macht.
Nicht über das Bilder-, aber über das Wortemachen, das Schreiben, hat William S. Burroughs schon 1966 gesagt, dass er das Wort für ein umständliches Instrument halte, dass es irgendwann überholt sein werde, „wahrscheinlich schneller, als wir denken“. NICHT-LESEN muss deshalb nicht Ignoranz bedeuten, sondern verweist auf einen mentalen Zustand von Schweigen und Stille und auf einen Zustand, der ein Denken in Bildern ermöglicht, auf ein nicht-alphabetisches, nicht-lineares Denken. Ein Denken, das sich auch als zerebrales Navigieren bezeichnen ließe, denn DAS GEHIRN IST EIN NAVIGATIONSINSTRUMENT. Nun, als „Gehirntier“ hat Arno Schmidt einige andere Schriftsteller bezeichnet, hier haben wir ein „Augentier“ vor uns. Göran weiß das vermutlich, sagt es aber nicht direkt. Sondern gibt zu Protokoll (ich habe es auf Band!):
„Stephen Shore etwa, der arbeitet am Bildaufbau, der wartet ja stundenlang auf das richtige Licht. Ich bin einfach da und mache ein Bild. Intuitiv.“
Nur gut, dass anschließend jemand wie Katja Dannowski nicht am Bildaufbau, aber am Ausstellungsaufbau feilt – geistesverwandt & mit ähnlichem Blick. Nicht mit demselben Blick – das wäre effektiv und zeitsparend, würde aber nichts bringen.
Denn es geht ja um Gefühle, und um die auszustellen braucht es keine Metaphern oder Symbole, sondern zwei Pole für eine spannungsreiche, knisternde Atmosphäre. Jene „Atmosphäre“, die keiner genau definieren, die aber jeder als Spiegel seiner eigenen Erinnerungen und Lebensgefühle teilen kann. In den Bildern, die wir jetzt gemeinsam anschauen. Na ja, nicht alle zugleich, sondern maximal zu fünft. Aber das reicht ja schon für ein Gespräch hinter Masken.
Das wäre dann die nächste Herausforderung für den Porträtfotografen.