Anne Kehrbaum
„Von Menschen und Dingen”
Einführung in die Fotografie von Göran Gnaudschun
Eröffnungsrede in der Markuskirche Hannover, 19. Juni 2022

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der britische Schauspieler Benedict Cumberbatch, unter anderem bekannt als „Sherlock“ in der gleichnamigen Krimi-Serie, wurde kürzlich durch die ´Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung´[i] interviewt. Wann würde er als Schauspieler einen „perfekten Moment“ erfahren, lautete eine Frage, einen Moment, der sich so anfühlt wie das fast rauschhafte Rennen für einen Marathonläufer.

Cumberbatch sagte, der Vergleich sei gar nicht so schlecht – wenn er auf der Bühne oder vor der Kamera stehe, gebe es oft einen Moment, in dem er für kurze Zeit sein Selbst verliere. Er würde sich dann in einem „fließenden Zustand“ befinden, in dem er sich ganz auf sich selbst konzentriere. Er überlege dann nicht mehr, ob das, was er gerade gespielt hat, gut oder schlecht war oder was er als Nächstes sagen müsse. Er sei – so Cumberbatch – „einfach nur da“.

Wir nehmen dies zur Kenntnis und denken uns noch einen anderen „Bestseller“ der letzten Jahre dazu: ´Marzahn, mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin´. Vielleicht haben Sie das Buch gelesen oder in einem Buchladen durchgeblättert. Es ist der ungeschönte, liebevolle, autobiografische Arbeitsbericht einer Schriftstellerin, die sich in Berlin-Marzahn, einst das größte Plattenbaugebiet der DDR, eine neue Existenz als Fußpflegerin aufbaut. Sie schreibt auf, was sie beim Arbeiten hört – die Geschichten ihrer Kundinnen und Kunden. Auf diese Weise versammelt das Buch „unheimlich genaue, zum Teil sehr lustige, zum Teil wahnsinnig traurige Porträts von großer Anteilnahme“ so brachte es ein weiterer bekannter Schauspieler, Matthias Brandt, auf den Punkt. Das Buch sei „ein Gesellschaftsroman der Unsichtbaren, die Katja Oskamp durch ihre Zuneigung zu ihnen sichtbar macht“, so drückte es ein anderer Rezensent aus.[ii]

Sie ahnen es bereits: Ich erwähne diese beiden Künstler, einen Londoner Schauspieler und eine in Leipzig geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin, weil ihre Arbeit in einigen entscheidenden Ansätzen Wesentliches mit der Arbeit des Fotografen Göran Gnaudschun gemeinsam hat.

In Gnaudschuns Arbeit spielen Menschen, spielt Gesellschaft eine ganz wesentliche Rolle. Viele Menschen in den unterschiedlichsten Ländern und Lebenswelten hat Gnaudschun bereits fotografiert. Dabei ist das, was er sieht, stets neu, und immer geht es ihm um die Wirklichkeit.

Aus diesem Ansatz heraus hält er auch die Orte, an denen die Menschen leben und arbeiten, fotografisch fest. Doch der eigentliche Fokus seiner Arbeit liegt auf dem Menschen selbst, auf uns als Individuen. Für seine Porträts interessieren ihn gerade diejenigen, die nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen, darunter auch Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben und von dieser möglicherweise sogar verachtet werden. Hier sucht und findet Gnaudschun seine Modelle, die er – so lautet eine wichtige Regel seiner Arbeit – persönlich nicht kennt, sondern die ihm der Zufall vor die Linse führt.

Gnaudschun hat in Leipzig Fotografie und Bildende Kunst studiert und lebt in Potsdam. „Du musst wissen, wofür Du etwas machst“ – so hat es ihm sein Leipziger Professor Timm Rautert einst nahegelegt. Daraus resultierte bei Gnaudschun ein Engagement für das Sichtbarmachen derjenigen, die eigentlich eher unsichtbar sind. Um sie ein Stück weit kennenzulernen, folgt er ihnen in ihre abseitigen, alltäglichen Lebenswelten hinein. Um sie aber wirklich zu sehen, muss er in einem fotografisch anstrengenden Prozess darauf hoffen, dass seine Modelle alles Ablenkende innerlich für einen kurzen Moment beiseite schieben.

Während sie für ihn Modell sitzen und in die Kamera schauen, durchlaufen die meisten von ihnen eine Entwicklung – und genau das sehen wir in Göran Gnaudschuns Porträts: Den Kulminationspunkt des Loslassens, des inneren Öffnens in einem vom Fotografen eröffneten Raum der Entfaltung.

Der Künstler selbst formuliert es in aller Bescheidenheit so: „Ich erkläre nichts. Ich stelle Menschen vor Hintergründe. Ich warte, bis sich etwas zeigt.“[iii] So sein Statement zu der 2015 in Hannover fotografierten Serie „Mittelland“. Wenig später in Rom, wo er als Stipendiat an der Deutschen Akademie Villa Massimo ein Studienjahr verbrachte, beschrieb er den fotografischen Akt wiederum so: „Ich fotografiere Dich. Für einen Moment sind wir uns nah. Ich spüre das, wir brauchen keine Sprache. […] Es geht nicht darum, was wir bedeuten, sondern darum, wer wir sind.“[iv] Mehr lesen und schauen können Sie in den Fotobüchern des Künstlers, Werk-Konvolute seiner fotografischen Laufbahn, die wichtige Etappen festhalten und die hier zur Einsichtnahme ausliegen.

Bekannt wurde Gnaudschun mit einer Serie vom Berliner Alexanderplatz. Hier porträtierte er von 2010 bis 2013 Punks und Straßenkinder, die teilweise obdachlos waren. Der Alexanderplatz als lebensfeindlicher Raum, ein von Touristen durchwanderter, von Beton umstandener Ort. Gnaudschun übertrat hier unsichtbare Schranken, setzte sich dazu, fotografierte – über Jahre hinweg.

Über all der Verzweiflung und Aggression des Alexanderplatzes schwebten gelegentlich Wolken – eine davon, magisch von der Sonne erleuchtet, schwebt oben an der Wand über der Empore. Es ist ein Stück „Himmel über Berlin“. Die Wolke steht zugleich für eine unscharf umrissene „Wolke der Möglichkeiten“[v], wie Gnaudschun sie in den Lebenswegen und Entscheidungen der Menschen erkennt. Warum Menschen so leben, wie sie leben, was in ihnen vorgeht, welche Ziele sie haben mögen – all dies sind Fragen, die den Fotografen interessieren und die wir uns unwillkürlich selbst stellen, wenn wir seine Porträts anschauen.

Hier stoßen wir an die Grundfragen der Idee zu dieser Ausstellung. Was ist der Mensch? Was kennzeichnet uns als Individuen? Was macht unseren Alltag aus, welche Rolle spielen dabei Orte und Dinge? Die Antwort darauf kann nur multiperspektivisch sein, weshalb auch wir gern verschiedene fotografische Konzepte in einen Dialog treten lassen wollten. Göran Gnaudschuns Strategie zur Beantwortung dieser Fragen ist die zufallsbehaftete Einzeluntersuchung, indem er sich entlang eines unsichtbaren Grats des Normalen, Unscheinbaren, Authentischen von Individuum zu Individuum führen lässt.

Wir sehen an den Wänden der Kirche die Früchte seiner Arbeit: Frauen, ein Kind und Männer aus Hannover, den skeptischen „Muscoletto“, Victoria und Antonella und viele mehr aus Rom, Melody, Shelley und Gangster und einige andere vom windigen und kalten Alexanderplatz.

Was alle diese Bilder gemeinsam haben ist jener magische Moment, den der eingangs zitierte Benedict Cumberbatch beschrieb. Denn irgendwann kommen fast alle seine Modelle an einen Punkt, sagt Gnaudschun, an dem sie im fotografischen Prozess aufhören darüber nachzudenken, wie sie im Bild wirken. Es ist jene Differenz zwischen der vorherigen Spannung und diesem Augenblick des Loslassens, die die Abgebildeten „so klar, so offen, so stark“ anwesend sein lassen. Es sei dann so, sagt der Künstler, „dass man denkt, man könne in ihnen wie in einem Buch lesen“, in einem „ausschließlichen Jetzt“, einem „absoluten Dasein“.[vi]

Es geht darum, „einfach nur da“ zu sein. Die Essenz des Daseins für einen kurzen, quasi zeitlosen Moment zu erleben. Dies ist eine Erfahrung, die für jeden Einzelnen von uns großen Wert haben kann. Göran Gnaudschun hält sie für uns in seinen Bildern fest. Nicht monumental, sondern eher intim, mit einer zurückhaltenden Sachlichkeit, die ihre eigene Poesie entfaltet.

 

[i] FAS 8.5.2022, „Ich will wissen, was Frauen denken“, Interview von B. Aust mit Benedict Cumberbatch.

[ii] Volker Weidermann, 07.12.2020, über Katja Oskamp: Marzahn mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin, 2019 (Klappentext).

[iii] Göran Gnaudschun: Fragmente zu Mittelland, in: Göran Gnaudschun: Mittelland. Dresden-Neustadt 2016.

[iv] Göran Gnaudschun: Tauben, in: Göran Gnaudschun: Are you happy? Galerie Poll, Berlin (6.9.2019-1.2.2020), mit Texten von Emilia Giorgi, Göran Gnaudschun, Yvonne Dohna Schlobitten und Marie-Amélie zu Salm-Salm, Berlin 2019, S. 79.

[v] Göran Gnaudschun: Tauben, wie Anm. 4.

[vi] Göran Gnaudschun: Fragmente zu Mittelland, wie Anm. 3.