Gelenkig blicken
Göran Gnaudschuns Neue Portraits
Gegeben ist etwas, dem wir uns nur nähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten, das gilt für alle Dinge. Wir können nichts „ganz nackt“ sehen, weil der Blick selbst die Dinge umhüllt. (Merleau Ponty)
Diese Fotos beweisen nichts. Es geht weder um eingebildete Jugendliche aus sozialbedenklichen Stadtteilen noch um Schönheitswettbewerbe. Es geht vielleicht um den Schrecken über die Veränderlichkeit von Gesichtern. Es geht Göran Gnaudschun sicher um den Blick.
Der Blick ist eine Gelenkstelle zwischen Subjekt und Objekt der Betrachtung. Die Trennung zwischen Betrachter und Porträt erfährt in der Wahrnehmung keine Vereinigung, sondern wird über den Blick lediglich vermittelt. Dieser Unterschied zwischen innen und außen lässt sich niemals auflösen. Man kann den Schauder, der einen deswegen befallen mag, mit Bildern provozieren. Ich behaupte, auch hier funktioniert es manchmal. Göran Gnaudschun fasziniert der Moment, an dem der Blick der Porträtierten sich von außen, von den Objekten, vom Objektiv der Kamera weg wieder nach innen zu richten scheint. Gnaudschun verknipst sehr konzentriert sieben Filme, in der Ahnung, ein solches flüchtiges Übergangsmoment auf einem der Bilder festzuhalten. Das ist natürlich umständlicher als die alltägliche Erfahrung dieses Moments, aber davon hat man kein Foto. Jeder kennt das versonnen glotzende Wegdriften, während man behauptet, etwas zu betrachten. Es ist die Situation, kurz bevor man vor lauter Selbstvergessenheit zu schielen beginnt, also nicht mehr schaut. Während der Betrachtung dieser übergroß abgezogenen Porträts passiert einem das wieder, man spiegelt sozusagen das Blicken der Abgebildeten. Physikalisch, pragmatisch gedacht, vereinfacht die schiere Größe der Bilder solche Prozesse, da die Augen nicht scharf auf Briefmarkengröße fokussieren müssen, sondern entspannt eher parallel ausgerichtet blicken.
Merkwürdig bleibt der Spiegelungseffekt aber doch, man fühlt sich von Dingen angeblickt und abgetastet, die gar keine Augen haben, sondern nur Abbildungen von Augen. Aber das kommt durchaus häufiger vor. Manchmal werden sogar Familienfotos verhängt, um sich nicht von der eigenen Großmutter beim Rauchen beobachten zu lassen.
Das berühmte Gedicht von Rilke, Archaischer Torso Apollos, beschreibt so eine nachdrückliche Irritation durch ein blickendes Ding, was obendrein weder Kopf noch Arme hat – eben nur ein Torso ist. Der Betrachter bricht bei Rilke unter dem Sehen des Kunstwerks fast zusammen und wähnt, er müsse, um den Prozess unter Kontrolle zu bringen, etwas an seinem Leben ändern. Der letzte Vers des Gedichts, „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht, du musst dein Leben ändern“, ist der Satz der eine absurd komische Aktualität behält und der, mittlerweile über die verschlungenen Wege gesellschaftspolitischer Erregungszustände gelenkt, für alle Menschen gilt, deren Erkenntnisverlangen, ausgelöst von was auch immer, ab und zu schreckhaft die Vorstellung provoziert: Du musst dein Leben ändern. Man erleidet das Sehen, dass man selbst herumglotzenderweise praktiziert, also auch von Seiten der Dinge. Passiert das mal wieder, hat der Reizschutz nicht funktioniert.
Freud erfand diesen Terminus für das Subjekt, eine Art Filter für die ständig prasselnden Reize. Der Reizschutz macht einen Vorfall zu einem, ordentlich und bewusst, erinnerbaren Erlebnis. Arbeitet dieser Filter nicht, kann eine, vom Bewusstsein nicht kontrollierbare Masse von früheren Eindrücken, von nicht bewussten Erinnerungen, den Hirnapparat bedrängen und dort Wahnideen hervorrufen.
Die Bemerkung Hegels, „Von der Kunst (ist) zu behaupten, dass sie jede Gestalt an der Oberfläche zum Auge verwandle“, ist, wie immer bei Philosophen, von lapidarer Unanfechtbarkeit. Hier hat Rilke abgeguckt für seinen Apollo. Hiermit wird traditionellerweise die „Macht der Kunst“ dampfplaudernd legitimiert. Und es funktioniert. Das Zurücksehen der Dinge, an denen man kein Sehorgan ausmachen kann, unterbricht die gewöhnliche Kommunikation unter Sehenden. Menschen, die sich durch das Angesehenfühlen von anderen wahrgenommen wissen. Hier ist es ein tatsächliches Zurücksehen, aber ohne Wahrnehmung, denn soweit geht die Vorstellung dann doch nicht, dass man dem Fotopapier eine Weiterverarbeitung des Gesehenen zutraut.
Trotzdem wird meine subjektive Wahrnehmung der äußeren Welt gestört, da ich alltäglicherweise davon ausgehe, dass meine Vorstellungen mir gehören, das Zurückblicken des Bildes, welches ich betrachte, scheint sich nun aber einzumischen und diesen Prozess zu steuern.
Die eigene Arglosigkeit, die Ahnungslosigkeit des Betrachters wird offenbar. Der Reizschutz des Subjekts wird unterlaufen. Diese Porträts haben nichts Schreckliches, Ekelhaftes, Lautes, Stinkendes – sie sehen ja ganz gut aus, und einigermaßen normal, aber das ist eben ein Irrtum. Sie sehen erstmal harmlos aus, und deshalb funktioniert der Filter nicht. Man rechnet hier nicht mit einem Zurückblicken, einer so intensiven Wirkung.
Das Objekt scheint einen anzusehen, weil es an etwas erinnert. Dieser Effekt ist Ohnmacht des Reizschutzes und Macht der erinnerungsauslösenden Objekte. „Du musst dein Leben ändern“ ist eine spontane Reaktion, von der Art eines Selbstgesprächs. Die Reaktion, also die Idee, jetzt sofort sein Leben zu ändern, passiert automatisch, aus folgerichtiger Notwehr, nur ist es immer zu spät, auch für einen anderen Betrachter. Für einen mit geändertem Leben findet diese Irritation wieder statt, nur mit einem anderen Arsenal von Erinnerungsbildern. Man macht, wie Lacan formuliert, selbst immer einen Fleck im Bild, den man nie wegbekommt. Es lässt sich nur die Position des Flecks verändern. Das Verhältnis des Blicks zu dem, was man sehen möchte, ist ein Verhältnis des Trugs. Das Subjekt stellt sich als etwas anderes dar, als es ist, und was man ihm zu sehen gibt, ist nicht, was es zu sehen wünscht. Der Blick ist der Ort dieser Missverständnisse. Höflicher könnte man auch vom Blick als Ort der Vermittlung sprechen, allerdings wird damit die Begehrlichkeit des Betrachters heruntergespielt.
Denn es ist doch so, das das ganze Foto unter den geierigen Blicken des Betrachters zu flimmern beginnt. Der Schauende will aufs Ganze. Was aber nicht zu haben ist. Und zwar weil Bildern aus der Perspektive eines konkretistisch Schauenden, der nur das sieht, was zu sehen ist (was auch sonst?), immer allerlei fehlt: Es ist ja nur ein Ausschnitt, es ist noch nicht mal dreidimensional, es ist auch so seltsam groß, also man weiß, dass da irgendetwas unvollständig bleibt oder lügt. Verglichen mit diesem Vollständigkeits-Begehren des Betrachters, erscheint die Realität des Fotos nur marginal. Diese Prozesse ereignen sich einzig auf der Ebene des Blicks. Es ist weder im Bild noch im Betrachter. Der Betrachter deponiert seinen Blick für eine Weile im Bild, und das Bild eröffnet im Gegenzug im Betrachter die sonst zugedeckten Erinnerungsdeponien.
Göran Gnaudschun provoziert mit seinen Fotos den Eindruck einer zusammengezogenen Vorstellung von Wahrnehmung. Die Setzung von Subjekt und Objekt ist unmöglich. Man weiß nicht mehr genau, wer hier zuerst schaut, der Blick bleibt in jedem Fall außen.
Nora Sdun