Matthias Harder
Rede zur Ausstellung „Hinter den Bildern” von Göran Gnaudschun,
im Kunstverein KunstHaus Potsdam, 20.10. – 1.12.2013
 
Vor über 10 Jahren bin ich in einem Übersichtswerk zur zeitgenössischen Photographie ziemlich aufregenden Porträts einer Punkband begegnet; sie stammten von Göran Gnaudschun. Und nur etwas später habe ich den Photographen selbst getroffen, als ich in Glückstadt einen Kunstverein leitete. Er kam damals mit seinem Professor Timm Rautert und einem Dutzend Kommilitonen aus Leipzig an die Elbe, um dort unter dem Titel „Silver and Gold“ auszustellen. Parallel entstanden ein Bildband im renommierten Verlag Walter König und eine Editionsbox, mit der alles erfolgreich finanziert wurde. So lernten die Studenten damals bereits entscheidende Schritte in Richtung Ausstellungswesen und Kunstmarkt, was bis heute nur an ganz wenigen Kunsthochschulen vermittelt wird, an der HGB Leipzig in der Klasse Rautert seinerzeit allerdings schon.
 
Damals in Glückstadt und auch später an vielen anderen Orten stellte Göran Gnaudschun seine einfühlsamen und zeitlosen Porträts aus, bis heute bleibt er dem Genre treu. Die Einzelbilder sind einem strengen formalen Bildkonzept untergeordnet – und wirken entsprechend weniger spontan als in dem Bandtagebuch über die Tournee der Folk-Punk-Band „44 Leningrad“, die in dem erwähnten, legendären Bildband „german contemporary photography“ veröffentlicht war.
 
Nun sind es wieder neue Aufnahmen, wieder andere Aspekte einer ganz ungewöhnlichen und individuellen Weltsicht. „Hinter den Bildern“ nennt der Photograph seine Potsdamer Ausstellung – und schon sind wir mitten drin in der Diskussion um das Abbildende und das Abgebildete, um die Repräsentation eines Gegenstandes durch die Photographie und das Physische dieses Bildes. Hinter den Bildern beginnt gleich der metaphysische Raum, und in diesem bewegt sich Göran Gnaudschun leicht und souverän, von dort holt er immer wieder Bilder für uns zurück ins Sichtbare. Sein visuelles Tagebuch nennt er überdies „Luft berühren“, aus dem wir hier viele Beispiele sehen: Alltagsbilder, die das Banale des Gegenstandes subtil und poetisch umdeuten. Wir sehen Häuser und Bäume, eine Decke und Wolken, einfache Dinge – und doch so essentiell wie flüchtig. Unter der Bettdecke spüren wir noch die Restwärme des menschlichen Körpers. Selbst wenn keine Menschen in seinen Bildern auftauchen, sehen oder ahnen wir deren Spuren. Das wiederum strenge Konzept dieses siebenjährigen Projektes, im ersten Jahr nur montags zu photographieren, im zweiten Jahr nur dienstags usw., wurde dadurch wieder aufgehoben, dass er schlicht das aufnahm, was sich gerade vor ihm befand. Ähnlich radikale Bildkonzepte hatten bereits die Situationisten um Guy Debord vor einem halben Jahrhundert in die Kunstgeschichte eingeführt.
 
Göran Gnaudschun entwickelt heute seine Themen in großangelegten Werkserien – wie viele seiner früheren Kommilitonen aus der Klasse Rautert. Denn mit den Einzelbildern ist es in der zeitgenössischen Photographie so eine Sache. Die Zeiten des „entscheidenden Augenblicks“, einst von Henri Cartier-Bresson als Kategorie in die Photogeschichte eingeführt und lange prägend, sind lange vorbei. Heute traut kaum ein Photograph mehr dem Einzelbild, in dem sich alles zu verdichten scheint, stattdessen wird in Bildessays oder Reihungen erzählt. Das Mit- und Nebeneinander von Bildern, die formal und inhaltlich einem ähnlichen Ansatz folgen, spiegelt die Komplexität der Welt und die in ihr existierenden Menschen und Dinge schlicht besser wieder.
 
Das gilt auch hier. Gnaudschun schafft es wie kaum ein anderer Kollege, seine Mitmenschen in unmittelbaren und fesselnden Einzelbildnissen zu charakterisieren – und so auch denjenigen, die wir möglicherweise übersehen, etwa den Punks und Obdachlosen am Berliner Alexanderplatz ein Gesicht zu geben. In den Bildtiteln nennt er uns auch ihre Vornamen. Die Menschen schauen zurück, neutral, offen, neugierig, aber keineswegs bedrohlich. Vor der eigentlichen Aufnahme liegt ein langer Prozess, ein Arbeits- und Kommunikationsprozess, der ein vertrautes Miteinander erschafft, das wiederum erst ein Bild dieser Intensität ermöglicht.
 
Wir könnten seinen Ansatz auch für eine zynische Strategie halten, die sich in purem Voyeurismus erschöpft. Doch dies ist die völlig falsche Fährte: Ich habe kaum einen emphatischeren Photographen kennengelernt als Göran Gnaudschun; er wählt den Weg der Teilhabe, der Introspektion, er sucht das Gespräch aus einer persönlichen Neugier und tiefem menschlichen Interesse. Damals war er Gitarrist der Punkband, die er auch photographisch begleitet hat, und heute verbringt er viel Zeit mit den Jugendlichen am Alex – bevor er sie photographiert. Und wir sollten nicht vergessen, jedes Porträt ist auch immer ein Selbstporträt des Photographen, in das das eigene Empfinden und Stimmungen mit einfließen. So kommt jeder Kollege mit Blick auf die gleichen Dinge zu unterschiedlichen Ergebnissen. In diesem Fall fordert uns der Photograph auf, die eigenen Assoziationsketten mit dem Bild zu verbinden – und dieses in gewissem Sinne zu „beseelen“, wie Gnaudschun es selbst nennt.
 
Seine neue Porträtserie nennt er „morgen“. Darin schafft er eine Klammer zwischen jungen und alten Menschen und thematisiert unser aller Existenz: wir haben unser Leben schon überwiegend gelebt oder es entsprechend noch vor uns. Auch hier treibt ihn der Wunsch nach Klarheit und Präzision im Abbild des Menschen um.
 
Wir müssen schon genau hinschauen, dazu zwingt uns Göran Gnaudschun, wenn wir den Alltagsdingen mehr Inhaltliches abgewinnen wollen als dargestellt ist.
 
In seiner Insel-Serie beispielsweise konfrontiert uns der Photograph nicht mit dem Klischee einer palmenbestandenen Insel mit feinem Sandstrand drumherum inmitten eines flach abfallenden Meeres sondern mit einer Baumgruppe inmitten eines abgeernteten Feldes. Dies ist keine Top-Destination. Im Nebeneinander entsteht schließlich eine Art Typologie, etwa wie bei den Fördertürmen oder Gasometern, aufgenommen von Bernd und Hilla Becher, hier allerdings vom technisch-skulpturalen ins landschaftliche Motiv übersetzt. Die Vertikalität und Zentralität des Hauptmotivs sind formal vergleichbar; beides, Industriearchitektur und Landwirtschaft, sind menschliche Kulturleistungen. In Gnaudschuns Inseln entlarven wir schnell das Romantische der Landschaftsidylle, wir sehen menschliche Spuren und somit die tägliche Mühsal des bäuerlichen Lebens. Die Zeit der Kolchosen ist vorbei, aber die EU-Subventionen sind auch nicht üppig. Diese Inseln sind auch Oasen vergleichbar, sind Schutz für Rehe oder Kaninchen, die wir zwar nicht sehen; wir wissen sie aber im Dickicht  und Unterholz der Bäume.
 
Doch Gnaudschun schafft noch etwas viel Elementareres: Er schildert nüchtern und sachlich, dabei verwandelt er das Konkrete ins Allgemeine, ins Urtypische. Durch seine Bilder stellen wir uns grundsätzliche Fragen, etwa: wie betrachten wir überhaupt Bilder, konkret: die Oberflächen von Bildern, die eigentlich gar nichts beweisen?
 
Dieser Photograph schaut für uns ganz genau hin; er geht in die Tiefe, blickt hinter Fassaden, ohne auch nur im Geringsten voyeuristisch zu agieren. Als Betrachter seiner Bilder blicken wir jedoch in offene Gesichter und geöffnete Seelen, ein Blick, der uns eigentlich nicht zusteht. So wird diese neo-humanistische Photographie zu einem Plädoyer für zwischenmenschliche Kommunikation und Wärme sowie für das Aufspüren verborgener, vermeintlich banaler Schönheit in unserer Welt.
 
Matthias Harder
 
Die Ausstellung wurde unterstützt von der Credit Suisse (Deutschland) AG.