Göran Gnaudschun: Are You Happy?, Galerie Poll Berlin, 5. September 2019

Einführung in die Ausstellung

Lieber Göran Gnaudschun, liebe Gäste des heutigen Abends,

Rom, das Glück und das, was man vor langer Zeit einmal das „Volksleben“ genannt hat – davon handelt diese Ausstellung.

Wenn es um „Rom“ und „Volksleben“ geht, heißt es, sich in Acht zu nehmen. Denn schon, wer einen einigermaßen kultivierten Einstieg sucht, wer nicht kulturhistorisch haltlos durch die Campagna irren will, dem versperren Wegelagerer der Feder im Gigantenformat leicht die klare Sicht. Wir bleiben jetzt bei den Vornamen, da auch Göran Gnaudschun nur die Vornamen seiner Porträtierten nennt, und die sind ja hier die Hauptpersonen und nicht unsere literarischen Stichwortgeber. Da ist also zum Beispiel der Rom-Reisende und Gigant Johann Wolfgang, der das römische „Volksleben“ besungen hat, die Römerinnen sind „schön und artig“, und dies „unter dem heitern frohen Himmel“, hier „die niedlichen Pulcinellbeinchen mit kleinen Füßchen und hohen Absätzen“, dort „lustige Gesellen“ und „tolle Schauspiele“; „wechselseitige Frechheit und Freiheit wird durch eine allgemeine gute Laune im Gleichgewicht erhalten.“ Im Karneval. Aber irgendwie „scheint das ganze Jahr Karneval zu sein“ in Rom.

Wer sich mit Johann Wolfgang in diesem seinem „Zauberkreise“ nicht einlassen will, auf den wartet Gigant Rolf Dieter, der sich fast 200 Jahre später Rom als Gewitterfront näherte. Die Ewige Stadt hat’s überstanden, seitdem heißt sie so. Die Villa Massimo brauchte eine Weile, um sich wieder zu erholen.

Rolf Dieter nannte Johann Wolfgang einen Blödmann, der jede Belanglosigkeit in der Tiberstadt hochgeschrieben habe, um sich selber größer zu machen. Der eine wähnte sich im antiken Glücksland Arkadien, der andere sah nur „stickige Gemäuer“ und „stumpfe Fassaden“, obendrein von bunten Plakaten geschändet, nicht Niedlichkeit und Anmut, sondern nur Römer und Mitstipendiatinnen vereint in Hippie-Zottel, Schlaghose, Plateausohlenstiefeln und schlechtem Betragen.

Schnell weg von dieser fatalen Symmetrie aus Über-Enthusiasmus und Romophobie und hin zu – nein noch nicht zu Göran Gnaudschun, sondern zu einem schlichten, klaren Satz wie: „Rom ist eine sehr interessante große Stadt, wo man sehr viel Schönes, sowohl in Gebieten der Kunst als auch in Hinsicht des Volkes viel zu erkennen hat.“ Das stimmt und stammt, nimmt man beglückt zur Kenntnis, von einem nüchternen Preußen, dem Maler Carl Blechen, der es dann vorzog, etwas zu malen anstatt etwas zu meinen über Rom, und insofern dann doch ein Vorgänger desjenigen Künstlers ist, der uns heute mit dieser Ausstellung beschenkt.

Aber: Geht es darin überhaupt um Rom? Sind wir da nicht von Anfang an auf einem Holzweg, auf den uns der Künstler gar nicht geschickt hat, sondern wir uns selber mit unserem Bildungsballast im Tornister? Geht es nicht vielmehr um ein weltumspannend Gleichförmiges – die mittlerweile multikulturell besetzte Global- Vorstadt, in deren Mitte die historischen Zentren als Schrumpfstufe bloßer Themenparks ihrer selbst fortexistieren, wie die postmoderne Urbanistik behauptete?

Nein, nicht ganz. Die Vorstädte Roms verweben nämlich in ganz besonderer Weise die drei Fragestellungen, die der Künstler an seine Gegenstände gerichtet hat: nach Zentrum und Peripherie, Typus und Individuum und schließlich nach dem Glücksmoment in alledem.

Zentrum und Peripherie: Die Vorstadt, die Wohnsiedlung am Stadtrand hat meist einen schlechten Ruf. Einfamilienhaus-Suburbia ist sicher, aber langweilig, Trabantenstadt unsicher und trotzdem nicht kurzweilig, es sei denn sie fällt sengend und brennend ins Zentrum ein. Die Vorstadt ist für das Baedeker-Hirn schlichtweg die Nicht-Stadt, das Uneigentliche, das man möglichst schnell durchquert, um bei Kathedrale und Palazzo anzukommen. Bewohner des Zentrums sind überzeugt, dass die Bewohner der Peripherie alle unglücklich sind und drehen darüber sozialkritische Filme. Die Bewohner der Peripherie sind glücklich, dass sie jetzt ein Bad und einen Balkon haben, auf dem jetzt der Kanarienvogel immer so schön singt, wie angeblich einmal die Bewohnerin einer britischen Trabantenstadt in ein verdutztes sozialkritisches Mikrophon sprach.

Vielleicht hat das Zentrum ja sogar Recht, aber das will sich die Peripherie von denen nicht sagen lassen. Warum auch, denn zumindest die römische Peripherie hat keinen geringeren als Pier Paolo Pasolini auf ihrer Seite. Nur dass den keiner mehr liest, und nur Cineasten seine Filme kennen.

Wie zum Beispiel Göran Gnaudschun, der das Frühwerk „Accattone“ gesehen und von einem Untertitelungsfehler den Impuls für seine Leitfrage und den Titel dieser Ausstellung empfangen hat: „Are You Happy?“. Es fügte sich, dass derjenige, der hier gerade zu ihnen spricht, sich angesichts des Ausstellungsthemas ebenfalls eines schmalen Wagenbach-Bändchens im eigenen Bücherschrank erinnerte, der deutschen Ausgabe von Pasolinis „Freibeuterschriften“ aus dem Jahr 1975, die damals ziemlich Furore gemacht haben.

Für Pasolini waren die römischen Vorstädte, bewohnt von Landflüchtigen der ersten und zweiten Generation, Orte der zwar beschädigten, aber würdevollen Seinsform einer untergehenden bäuerlichen Genügsamkeit. Vorstadt im Zeitsinn statt im Ortssinn: etwas, das vor der Stadt da war, vor dem Zentrum, vor dem Fernsehzeitalter, vor dem Kapitalismus, vor dem nivellierenden medienbefeuerten Konsumismus und Hedonismus. „Das bäuerliche und subproletarische Leben vermochte noch eine Art ‚realen‘ Glücks in den Leuten auszudrücken.“ Das war Pasolinis Credo.

Charakterköpfe und wirkliche Individuen statt eines universellen Einheitsgesichts mit onduliertem und gefärbtem Männerlanghaar, für Pasolini ein geradezu biblischer Greuel. 1964 träumte er in dem Gedicht „Prophezeiung“ (Profezia) davon, dass afrikanische Völkerschaften in Süditalien landen, Rom zerstören und „den Samen der alten Geschichte säen“ werden. Er romantisierte also nicht etwa italienisches Bauerntum, er romantisierte archaische Gesellschaften also solche, weil sie sich selbst in der normierten Dreiraumwohnung der Vorstadt ihren kulturellen Trotz zu bewahren schienen.

Bei aller Verehrung für Pasolini. Das Glück in der Armut, das Authentische in der Dialekt- und Ortsgefangenschaft, Eigensinn als Inlandsexotik – das stand schon damals vor einem halben Jahrhundert etwas fremd im Raum, als Pasolini dies alles schrieb. Aber wir müssen es im Kopf behalten, wenn wir die heutigen Bewohner jener Pasolini-Vorstädte auf Göran Gnaudschuns Porträts betrachten. Er zeigt uns nämlich nicht nur Gesichter, sondern auch ihr Milieu in einem Grenzbezirk zwischen Stadt und Landschaft, in der Gegend, die immer auch ein Ort der Offenheit ist. Die Frage „Bis du glücklich?“ – das heißt: „Bist du individuell glücklich?“ – geht darin um wie das Gespenst der Freiheit.

1931 schrieb der Philosoph Karl Jaspers von einer „Obsession“ der Fotografie seiner Zeit: nämlich überall „Typen“ aufzuspüren. Nicht im Sinne einer „durchschnittlichen Gewöhnlichkeit“ sondern um „Leitbilde und Gegenbilder“ in hochkonzentrierter Verdichtung zu schaffen: Das „Typenporträt“, das „Stammesgesicht“, worin das Individuum vor allem Milieu, Ethnie, Landschaft repräsentiert. Wir erinnern uns an die soziologische Absicht eines August Sander, den auch Göran Gnaudschun zu seinen Vorbildern zählt – aber eben dort, wo Sanders Konzept eines Bilderatlas der Gesellschaft nicht recht aufgeht, wo sich die Persönlichkeit mimisch und physiognomisch einer artensystematischen Einvernahme entzieht.

Wir kennen die fotografisch stilisierten Zukunftsmenschen der politischen Propaganda aus dieser Zeit: die strahlende Kolchosen-Traktoristin im Sozialismus, die militanten Heroen der diversen Faschismen. Alle in eine Ordnung gebannt, erdverbunden, naturverbunden, standesgebunden, in sich ruhend – und deshalb glücklich, sollen die Betrachter denken. Ein fotografischer Antipode von August Sander in seiner Zeit, Erna Lendvai-Dircksen, war überzeugt, dass sich Landschaften im Antlitz ihrer Bewohner abbilden, Gesichter wie Baum und Borke, Felsgestein und Bergblumen. Sie sah in Alpenbauern „wandelnde Gebirge im klaren Licht heiterer Gemütsruhe. Sie waren ihre Landschaft selbst.“ Schreibt sie in einem ihrer Bildbände, kriegt man mit der richtigen Ausleuchtung auch garantiert hin, auf jeden Fall, wenn man dann „Der Bergbauer“ darunterschreibt.

Bei Göran Gnaudschun steht aber unter den Bildern nicht „Der Bergbauer“, sondern Victoria, Boutros oder Mirko nebst Ort und Jahr der Aufnahme.

Vielleicht machte der kleine historische Ausflug die Raffinesse dieser Ausstellung deutlich. Auch sie baut ein Szenario aus Milieu und Menschen auf. Wenn wir hier die Grundriss-Abstraktionen all dieser Trabantensiedlungen an der Wand sehen, finden wir sie irgendwie in die Gesichter der Porträtierten eingeschrieben? Von denen wir wissen, dass sie nicht mehr die unmittelbaren Nachkommen von Bauern aus Friaul oder dem Mezzogiorno sind, sondern aus aller Herren Länder und Kontinente kommen? Nun könnte man einwenden: Das ist es ja gerade, das schafft die Vorstadt gar nicht, weil sie die Ortlosigkeit schlechthin ist. Ja vielleicht, ein paar herumstehende Pinien-Bäume, ein paar Fragmente römischer Ruinen meinen wir zu erkennen – aber die stehen herum, als ob sie der Bagger übersehen hat.

Können diese Menschen also glücklich sein? Göran Gnaudschun hat sie nicht gefragt. Wir können sie auch nicht fragen, wir fragen den römischen Philosophen Seneca. Es ist nämlich allmählich an der Zeit, über das Glück zu sprechen, und Seneca hat einen Traktat „Vom glücklichen Leben“ geschrieben. Gegenüber Glücksdefinitionen aus der Mitte von Sklavenhaltergesellschaften ist natürlich immer Argwohn angebracht. Da kommt meistens die „ländliche Muße“ als erstes aufs Tapet. Also irgendetwas Tätiges, aber bitte nicht im Sinne von Arbeit, wie sie die Porträtierten auf unseren Fotografien wahrscheinlich verrichten. Und wohin sie keine Sänfte trägt, sondern ein überfüllter Vorortzug. Tatsächlich kommt die Muße bei Seneca, aber erst einen Traktat weiter im Gesamtwerk. Nein, hier jedenfalls sagt Seneca: Glück ist die Freiheit von Furcht. Als engem Vertrautem des Kaisers Nero glauben wir ihm das sofort. Aber wieso steht auch auf der gelben Jacke der jungen Frau in dieser Ausstellung „No Fear“? Hat sie jetzt Seneca gelesen oder Göran Gnaudschun?

Wie gelangt man zum Glück als Freiheit von Furcht, weiser Seneca? Antwort 1: Meide die großen Menschenmassen, denn die neigen zur Panik. Wir aber sehen auf der Fotografie eine Menschenmasse, die sich anscheinend ziemlich furchtlos und ziemlich mächtig amüsiert. Antwort 2: Durch Vernunft und Tugend. Vernunft, das sagt uns was. „Tugend“ hat schon Generationen pubertierender Lateinschüler überfordert, wenn sie „Virtus“ übersetzen und sich möglicherweise etwas darunter vorstellen sollten, nämlich wie Seneca das Gegenteil niederer Begierden. Der junge Vater Michael mit seiner Tochter Wendy aus Quarticciolo kann sich vielleicht etwas darunter vorstellen, denn sein T-Shirt zieren Prinzessin Laster und Gevatter Tod – da möchten wir lieber nicht wissen, wie der vor seiner Vaterschaft drauf war.

Irgendwann senkt sich vor unsere Augen der Antikenfilter: Aus verschlungenen Hochautobahnen werden Aquädukte, aus der Bolz-Wiese der Gladiatoren-Zirkus – vor dem uns Seneca nachdrücklich warnt – , aus dem liegen gebliebenen Betonquader ein Sarkophag. Vor der Daddelhalle sehen wir ein Filmplakat, das mit Menschen im Bärenpelz für den Film „I Primitivi“ wirbt. Das müssen die Cimbern und Teutonen sein, die Ostgoten oder die Westalemannen! Der imposante Kahlschädel im schwarzen Pullover anstatt der Toga, kommt er nicht geradewegs aus dem Senat oder vom Forum zurück? Das Konfetti auf dem Asphalt: Da muss ein Karneval vorbeigerauscht sein, gestern, vor Jahrhunderten – wer weiß, flüchtig ist das Glück, wie Konfetti eben. Nur die Tankstelle an der Via Prenestina ist wirklich eine Tankstelle.

Göran Gnaudschuns Genres sind ein Garten der Augenlüste für Ikonologen und Hingucker alten, das heißt kunsthistorischen Schlages. Wo man sich auf die Suche machen kann nach geheimen, halb versteckten Zeichen und Symbolen. Auf dem Balkon einer nächtlich düsteren Wohnblockfassade nämlich sieht man zum Beispiel einen neonleuchtenden Stern von Bethlehem. Vor ein paar Tagen war ich mir da noch nicht sicher, als man vor den Bildern in die Knie gehen musste, um sie in Augenschein zu nehmen, jetzt nicht allein aus Ehrfurcht, sondern weil sie auf dem Boden standen und darauf warteten, an die Wand gebracht zu werden.

Die heikelste Frage sparen wir uns wie Seneca bis ganz zuletzt auf: Geht Glück mit Geld zusammen? Aber gewiss, sagt unser Gewährsmann ganz logisch, wenn das Geld aus denselben Quellen wie das Glück stammt, aus Vernunft und Tugend nämlich, warum nicht? Wir hätten natürlich lieber ein Trostwort gehört, vom wahren Glück in der Armut. Seneca bleibt es uns schuldig, erst ein Motiv von Göran Gnaudschun spendet es uns. An der Mauer steht geschrieben: „Wir waren glücklich mit Wenigem. Es war ohne Bedeutung, wie und wo.“ Ich hoffe, ich habe das richtig übersetzt. Und ich hoffe natürlich, dass der Künstler das nicht selber hingepinselt hat, als Osterei, das gefunden sein will.

Und wenn schon. Über das „wo“ und das „wie“ gibt es im glücklichen Augenblick dieses Abends jedenfalls keinen Zweifel: Das eine ist die Galerie Poll, das andere diese Ausstellung. Wenn Sie jetzt eine Münze hinter sich werfen, wo kein Brunnen ist, sondern höchstens das Weinglas Ihrer Nachbarin, dann werden Sie noch glücklicher werden und kommen garantiert wieder.

Bodo-Michael Baumunk

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Die Goethe-Zitate entstammen Goethes Werke Bd. 11 (Hamburger Ausgabe), Italienische Reise, ,11. Aufl. 1982, S. 367, 418, 485, 487, 503; die Wiedergabe von Rolf Dieter Brinkmanns Rom-Erfahrung beruht auf
ders.: Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg 1979. Carl Blechen wurde zitiert nach: Marianne Bernhard (Hg.): Deutsche Romantik. Handzeichnungen, Bd.1., Herrsching o.J., S. 16; Pier Paolo Pasolini nach ders. Freibeuterschriften (Scritti corsari), dt. Berlin, 1978, S. 38 u. 129. Die Zitate von Karl Jaspers und Erna Lendvai- Dircksen stammen aus: Falk Blask, Thomas Friedrich (Hg.): Menschenbild und Volksgesicht, Münster u.a. 2003, S. 88 u. 56. Die Anmerkungen zu Seneca folgen Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften (übers. v. Otto Apelt), Bd. 2, Hamburg 1993