Rede für die Nacht der Villa Massimo im Martin-Gropius-Bau, Berlin

Göran Gnaudschun
Dezember 2017

Ich bin in einem Raum, nichts ist darin, nur ein Fresko, das mich umgibt. Vollständig. 360 Grad. An den Wänden wuchert üppige Vegetation. Ein Garten: Gräser, Blumen, Zitronenbäume, kleine Vögel. Es ist still. Der Bahnhof Termini ist nicht weit, hier im menschenleeren Palazzo Massimo sind das Gewusel und der Lärm aber unendlich fern. Ich werde augenblicklich ganz ruhig, sanft. Fühle mich aufgehoben. Alles fällt von mir ab: die Einsamkeit, der Erfolgsdruck, die Sorge um die Finanzierung der Familie, das Gefühl, nie genug getan zu haben – es ist alles verschwunden.

Ein Raum der Vollkommenheit. Ein Raum der Güte. Ein dargestellter Sommernachmittag. Ein Tag ohne Schatten.

Ich war darauf nicht vorbereitet. Durchlöcherte Ich-Funktion. Dieser Raum, geborgen aus einer antiken Villa, die im Tibersand entdeckt wurde, umschließt mich, seine Friedlichkeit durchdringt augenblicklich meine Gefühlsfirewall, nimmt mich in sich auf.

Ich habe keine Wünsche mehr, bin nur noch Auge. Pures Sehen. Die Farbe an den Wänden ist ein Garten und der Garten ist vielleicht das Paradies.

Ich weiß, warum ich hier bin, hier, in Rom, seit September 2016 zusammen mit neun Anderen: Schriftstellern, Bildenden Künstlern und Komponisten. Wir sind die „Auserwählten“, die eine „Insel der Seligen“ bewohnen. Ein utopischer Ort, an dem alle Gegensätze aufgehoben sind.

Utopos heißt übrigens Nirgend-Ort. Die Villa Massimo hat aber eine feste Adresse: Largo di Villa Massimo 1-2, 00161 Rom. Trotzdem bleibt sie im Mythischen. Viele haben davon gehört, aber nur wenige waren dort. Man kann nicht ohne weiteres hinein. Es geht nicht ohne das Geheimnis. Eine Mauer umschließt das Anwesen und trennt die ruhige Parkanlage von der chaotischen Stadt. Wir sind in einer perfekten Welt, die Vergangenheit und Gegenwart zugleich bedeutet. Der Direktor sagt uns zur Begrüßung: „Wir werden alles tun, damit es Ihnen hier gut geht.“ – Was keine Floskel war.

Wir sind finanziell gut unterfüttert und haben die Zusicherung, völlig frei zu sein in der Entscheidung, woran man in den zehn Monaten arbeitet oder ob man überhaupt arbeitet. Wir sind dafür da, das zu tun, was wir tun wollen – und gleichzeitig MÜSSEN.

So viele wichtige Namen sind auf der Stipendiatenliste! Es könnte eine Art Kraftfeld entstehen, eine Verfasstheit des Ortes, die sich mit allem, was hier gedacht und geschaffen wurde, auf uns überträgt. „Das dünstet aus und ich werde danach riechen: nach all den großen Namen.“ So dachte ich. Davon war nichts zu spüren – glücklicherweise: die Ateliers sind frisch gestrichen und ohne die Spuren anderer. Kein Wall aus Wichtigkeit türmt sich auf. Ich könnte nie behaupten, dass ich im Bett von Ernst Jünger geschlafen hätte.

Die Ateliers sind Orte des Neuanfanges. Ich mochte mein Studio 6 sehr. So groß, so hell, so leer. Nur das, was ich wirklich brauchte, habe ich mitgebracht. Kein Ballast, wenig Persönliches, mönchisch fast. Alles, womit man das Atelier füllt, kommt aus dem, was man selber tut.

Jeder ist für sich die Stunde Null, die, wenn es die Götter gut meinen, nicht zum Ground Zero wird.

Rom ist eine Stadt der Zeitschichtungen. Seit mindestens zweieinhalbtausend Jahren wird gebaut. Immer wieder übereinander. Es ist voll von Geschichten und wenn man etwas erfahren hat, liegt noch etwas darunter, was man nicht weiß. Die Gegenwart ist so da, so nah, so unmittelbar und die Vergangenheit ist so präsent, als wäre sie nie vergangen. Zumindest für diejenigen, die einen gut trainierten Muskel für die Vorstellungskraft besitzen. Wenn man sich aber nicht völlig überrumpelt totstellt, kann man damit für sich etwas fortsetzen, was andere begonnen haben.

Ich sitze links hinten im Forum Romanum unterhalb des Kapitols auf einem Stein, es ist spät. Nur noch vereinzelte Besucher hantieren mit ihren Handystangen herum, fotografieren sich vor historischem Hintergrund und senden Grüße an die Lieben daheim. Viele setzen dabei das bezauberndste Lächeln auf, das sie haben. Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf die Reste der verlorengegangenen Zivilisation vor mir. Oben im Jetztlevel düst der Verkehr, ich bin aber hier unten. Ich spüre so etwas wie Demut, aber auch Trauer in mir aufsteigen, weil ich nur so kurz zu leben habe. Weil alles hier, die Säulen, die bröckelnden Statuen, die gepflasterten Wege schon so alt sind, weil vom Damals zum Jetzt so viel Zeit vergangen ist, so viele Menschen gelebt haben, mit ihrer eigenen nur kurzen Zeitspanne und die Wolken immer immer weiter ziehen und sich nicht um das scheren was unten vorgeht.

Mir ging in Rom die Überzeugung verloren auf höherer Stufe zu stehen. Jede Zeit hat ihren Ausdruck und die ihr gemäße Kunst. Die Kunstgeschichte ist keine Leiter, nicht mal eine Spirale, nichts führt nach oben. Sie ist eher ein Bergwerk, in der jeder seinen Stollen gräbt und Höhenunterschiede bedeutungslos werden.

Ich habe mich entschieden, eine Arbeit über das zeitgenössische Rom zu machen, über die Vorstädte im Osten Roms. Ich fahre mit dem Rad, die Sonne im Rücken, die Via Prenestina ostwärts. Vom jungen, hippen Pigneto über die Wohnmaschinen der 50er und 60er Jahre, den Lagerhallen und Industriegebieten von Tor Sapienza bis zum GRA, dem Berliner Ring von Rom.

Die unterschiedlichen Schichten von Menschen bilden sich an den Bushaltestellen ab. Geborene Italiener und Migranten. Rroma, Schwarze, Chinesen und Bangladeshis. Arbeiter und Menschen, von denen man nicht weiß, wovon sie leben.

Später portraitiere ich die, die es nicht einfach haben, suche Blumen auf dem Schrott, finde immer zwischen Lebenshärte und Unrast Schönheit, Stolz, Würde und Kraft. Wie bei der Tochter des Fleischers vom Quarticciolo. In seinem Laden riecht es nach den Unmengen versengter Fliegen, die in die Gitter der großen elektrischen Falle geraten sind. Man hört es kurz knistern und ein kleiner Blitz entsteht. Der Fleischer verkauft seine Mortadella denen, die hier leben, die, unvorstellbar für die stilvolle Mitte Roms, schon nachmittags vor den Häusern sitzen und Bier kippen. Männer und Frauen sind stark tätowiert, es herrscht ein rüder Ton. Kein Ort für Fremde nach Einbruch der Dunkelheit, so denke ich bei mir. Die Tochter steht mit zwei Freunden im Laden, beide vollbesät mit Körperschmuck und Hautornamenten. Schreien mit dem Fleischer herum. Meinen es nett und ich verstehe keinen Ton. Die Tochter kommt mit vor die Tür, sie ist die Stille von den Dreien. Ich muss an ihrer Pose nichts ändern, nichts vorschreiben, nichts mir ausdenken. Sie ist sie selbst. Steht einfach da, im Abendlicht und die Sonne bescheint die Vorortfassaden mild. Ihr Entwurf von sich ist mein Bild.

Ich fahre mit dem klappernden Bus zurück, dessen Stoßdämpfer den Kampf gegen die Schlaglöcher schon vor Jahren verloren haben. Zwischen die dichtgedrängten Fahrgäste schieben sich die Dieselabgase des undichten Auspuffs. Schon wenn die kleine Gartenpforte der Villa Massimo geschlossen ist, verebbt der Verkehrslärm, die Welt wird langsam und still, es scheint sogar einige Grad kühler zu sein. Gruppen von Sittichen machen ihren Abendflug. Ihr Kreischen ist das einzige Geräusch, verbunden mit dem Knirschen der Kiesel unter meinen Füßen. Kein Stipendiat ist vor seinem Atelier zu sehen. Sind alle so konzentriert. Niemand soll stören. Mich auch nicht. Noch größer wird die Stille im Atelier, weil nicht mal mehr der leichte Wind zu hören ist, der die Pinienkronen bewegt, die durch das Fenster sichtbar sind. Einsamkeit. Die Klause ist mein Saal. Der Ort dazu da, Wünsche zu erfüllen.

Vor dem Haus wächst üppig Rosmarin, hinten gibt es Lorbeerbüsche. In einem Küchengarten wachsen frische Salate, alle mir bekannten Gewürze und im Sommer Tomaten.

Männer in Grün mähen unentwegt den Rasen, beschneiden die Bäume, glätten den Kies. Das Sommerfest wird von 4000 Menschen besucht, Ehrengäste geben sich die Klinke in die Hand. Eine Frau mit türkischem Namen steigt im weißen Kleid in einen mit Kaffee gefüllten Brunnen, ein Mann mit sehr deutschen Namen nimmt die schrägen Töne eines Cellos auf und spielt sie noch schräger verfremdet zurück. Eine andere Frau sitzt in ihrem Schreibzimmer und schreibt Bücher, deren Enden einen ratlos zurücklassen und ein anderer Mann schneidet in Rom einen Film, den er in der mazedonischen Hauptstadt gedreht hat. Skopje! In Rom!

Wofür das alles? Auf die Kassenwarte der Menschheit muss das ganze Anwesen, das Hofieren der Stipendiaten und der ganze Luxus des angeblich freien Schaffens wie Hohn wirken.

Es ist Verschwendung. Verschwendung von Stiftungsgeld, Steuergeld und Spenden. Verschwendung von Arbeitskraft und organisatorischem Können. Nichts von dem, was hier passiert, hat einen erkennbaren Nutzwert. Ein Park, den niemand betreten darf, Künstler, die unverständliche Dinge tun und Handwerker, die weiße Wände weiß streichen. Allen geht es gut.

Aber: ganz Rom ist voller Verschwendung. Einflussreiche Adelsgeschlechter, Kaiser und Päpste plünderten ihre Schutzbefohlenen aus, um das Geld hier aus dem Fenster zu werfen, um Bauten zu schaffen, von denen einer prachtvoller als der andere ist, um Feste zu veranstalten, deren Dimensionen heute immer noch unvorstellbar sind, um sich die besten Künstler in die Stadt zu holen, die die Welt kannte, damit diese hier für sie arbeiten und der eigene Name untrennbar mit den halbgöttergleichen Titanen der späteren Kunstgeschichte verbunden ist. Wir befinden uns also in bester Gesellschaft.

Es gibt Dinge im menschlichen Zusammenleben, die der Zweck-Mittel-Relation entzogen sind. Momente, in denen hemmungslos verschwendet wird, verschwendet werden muss. Das jeweilige Maß hängt mit den herrschenden Gesellschaftsstrukturen zusammen. Der französische Philosoph Georges Batailles hat das in dem Begriff dépense zusammengefasst, was bei ihm den deutschen Wörtern „Verschwendung“ und „Verausgabung“ am nähesten kommt. Dazu gehören: Kriege, aufwendige Trauerzeremonien, Luxus, Prachtbauten, Spiele und Theater. Die scheinbar nutzlose Verschwendung von Ressourcen, das sinnlose Vergnügen, dass seine Lust gerade aus seiner Sinnlosigkeit bezieht, hat nicht den Gewinn, den Nutzen zum Ziel, sondern den reinen Verlust. Eine entwickelte Gesellschaft erzeugt durch ihre Produktion Überschüsse, die in regelmäßigen Abständen abgebaut werden müssen, weil sie sonst die Produktion bedrohen. Bataille fordert schon 1933 ein Umdenken, raus aus dem Kreis von Produktion und Konsum, der die ganze Welt zerstört.

Es gibt bei ihm ein schönes Beispiel: Die Azteken hatten zu ihrer Zeit das Jahr in 12 Feste unterteilt, wenn eines aufhörte begannen schon die Vorbereitungen für das nächste. Während bei uns der Gedanke vorherrscht, die Ausschweifung gehört zur Erholung und somit zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, war die Ausschweifung, das Fest, das Ziel. Gesellschaften sind stabil, die den Vorrang des Festes kennen. Es kann sich kein unermesslicher Reichtum in wenigen Händen konzentrieren, weil alles sofort immer wieder ausgegeben wird.

Der Tribut der Gläubigen, die dem Papst Abgaben zahlten, wird zum Verlust des Papstes, der Millionen für Kirchen und Gemälde ausgibt und am Ende pleite ist. Wir, die Nachkommenden, sind davon die Nutznießer, gehen staunend durch Rom und bekommen den Mund nicht mehr zu. Das, was überflüssig schien, die ganze Verschwendung, der Hunger der Armen, Kriege und entsetzliche Not sind plötzlich dazu da, uns zu uns selbst zu führen, uns begreiflich zu machen, dass wir nicht alles sind, obwohl jeder die Welt in sich birgt, sind dazu da, uns mit dem Erhabenen zu verbinden und mit dem, was sich menschlich-allzumenschlich durch die Zeiten schleift. Nichts ist vergeblich, wir können etwas Größeres tun als wir selbst sind.

Die Villa Massimo ist ein Ort der Verschwendung. Sie ist dazu da, Künstler in die Lage zu versetzen, sich selbst zu verschwenden. Ich verschwende nicht was ich habe, sondern was ich bin.

Vielleicht ist es ein wenig pathetisch, aber ich spreche für mich und für viele, die in den Künsten tätig sind, die sich verschwenden, weil sie es MÜSSEN. Weil sie keine andere Wahl haben, weil sie sonst unglücklich würden.

Für sie ist die Villa Massimo da, um ihnen den Raum zu geben, weiter zu kommen. Allen, die für uns Stipendiaten da waren, gebührt unsere Dankbarkeit! Danke Herr Dr. Blüher, danke Julia, Agnese und Allegra, danke Dennis, danke Ornella und Barbara. Dank an Herrn Springfeld und alle, die hier ungenannt bleiben, weil ich meine Redezeit schon überschritten habe.

Unsere Wertschätzung gilt der Jury, die ihr Vertrauen in uns gesetzt hat. In Nezaket Ekici, deren Kunst ihr Leben ist und die ihre Couch zum Symbol gemacht hat. In Lisa Streich, deren Musik mich in fremde, bizarre Welten entführt hat. In Adnan Softic, stets formvollendet in Werk und Erscheinung. In Anna Kubelik, von denen meine Kinder meinten, ihr Beruf sei Erfinderin. In Nina Jäckle, deren kritischen Blick ich sehr schätze. In Torsten Herrmann, dessen Kompositionen hart und brutal sein können, gleichzeitig aber zart und klar. In Hartmut Lange, dessen Texte soviel Wehmut in sich tragen, der aber immer ein irritierendes Späßchen parat hatte. In Heike Geissler, kämpferisch im Schreiben und mit mir immer die letzte, wenn es was zu feiern gab.

Unsere Feier kann gleich beginnen. Eines möchte ich Ihnen aber noch auf den Weg in die Lesungen, die Konzerte und die Ausstellung geben:

Wenn alles vermessen ist, sucht sich die Kunst das No Man’s Land. Vielleicht zwischen den Grenzen, vielleicht auch in uns. Kunst sucht sich immer den Raum, der frei ist. Flüchtet, wenn es zu eng wird. Windet sich raus. Findet Ausreden. Will nicht greifbar und schwer beschreibbar sein. Kunst ist Katze. Dem Schrödinger seine. Ist Beobachtung ohne klares Ergebnis. Kunst ist Mehrdeutigkeit. Ist Poesie.

Es gibt nichts, was wir nicht verstehen können. Man muss bereit sein. Dann aber eröffnet sich ein Kosmos im Inneren. In jedem von Ihnen.

Und Verschwendung ist Voraussetzung für die künstlerische Freiheit. Es geht um die Ernsthaftigkeit und um Haltung, es geht um Kompromisslosigkeit, so locker, wie dieser Abend auch werden wird. Lassen Sie sich nicht täuschen. Jeder hier meint es ernst. So ernst, dass er alles verschwendet. Sogar sein Leben.