Leseprobe aus „Wüstungen”, Göran Gnaudschun

Lankow

Wann ist früher? Früher stand hier ein Dorf, auf einer Anhöhe mit Blick zum See: drei Großbauern, zwei Büdner, ein Stellmacher, ein Fischer. Ein Gasthof, Landarbeiterwohnungen und zeitweise sogar eine Schule.

Früher war hier dann alles Grenzgebiet: fünfhundert Meter Schutzstreifen, dahinter fünf Kilometer Sperrgebiet. Ein Dorf, das von allen anderen abgeschnitten war. Passierscheinpflichtig. Keine Straße, nur ein Feldweg führte hierher. Von schweren Armeefahrzeugen so aufgewühlt, dass nur ein schmaler Streifen am Rand übrig war, auf dem die Kinder mit dem Fahrrad zur Schule fahren konnten.

Früher haben hier Angehörige der Volkspolizei und Grenzer gewohnt, auch linientreue Landarbeiter, die aus der Industrie kamen und ein paar Jahre in der LPG arbeiteten. Es gab eine Abwasseranlage, eine befestigte Straße und eine eigene Verkaufsstelle. Junge sozialistische Familien lebten hier.

Früher standen hier keine Bäume mehr, keine Häuser, alles war planiert, ein Kolonnenweg ging am Ufer entlang, Grenzsignalanlagen und Streckmetallzäune, hier war eine Grenzanlage mit Gittern quer über den Fluss gespannt, es gab eine Pontonbrücke, und gegenüber stand ein Wachturm, von dem aus man die Halbinsel Lankow übersehen konnte.

Früher wurde hier ein Gedenkstein aufgestellt, damit der Ort nicht vergessen wird, wo nur noch Heide ist und Wald. „Da standen für das Foto Leute am Stein, die gar nicht hätten da sein dürfen, das waren ja die späteren, denen das gar nicht gehört hat“, sagt mir jemand aus dem Nachbardorf, der sich hier in Lankow von den alten Bäumen die Äpfel holt. Es muss einen Moment gegeben haben, in dem sich Zwangsausgesiedelte und spätere Nutznießer am Gedenkstein zum Gruppenfoto trafen. Vielleicht hat man ja nacheinander dasselbe Haus bewohnt.

Jetzt, heute, das auch schnell zum Früher wird: Mitte September 2015, ein paar späte Grillen zirpen in den grauen, schweren Himmel. Am Ortseingang ein gelbes Schild: „Lankow, Kreis Gadebusch, Bezirk Schwerin“. Rechts standen die ersten zwei vorgelagerten Häuser, da sind jetzt Bäume. Unter mir die gepflasterte Straße, links ist Kiefernwald. Laut Messtischblatt von 1905 war der schon da, bevor das Dorf ausgelöscht wurde. Ich gehe die Pflasterstraße weiter zum ehemaligen Dorf. Rechts auf der Heide eine junge, aber schon hochgewachsene Buche, links Gebüsch, dazwischen Obstbäume – wenn man genauer hinsieht. Eine Informationstafel mit historischen Fotos und dem Lageplan der Häuser von Lankow, weiter vorn rechts der Gedenkstein. Alte Kacheln drauf, das verstehe ich, aber auch ein weitgehend aufgelöster Gummistiefel und ein Stück altes Kabel. Links zwischen Bewuchs und Bäumen noch der rote Kachelboden der Gastwirtschaftsküche.

Es wird langsam dunkel. Ich gehe den Weg zum Lankower See, neben mir hohes sattes Gras, nicht ohne Grund bedeutet Lankow „im Sumpf gelegen“. Die Bäume stehen, je weiter ich komme, immer enger. Am Abhang, der steil zum See abfällt, gehen sie in dichten Wald über. Die Häuser lagen mit Blick zum See. Abend für Abend ging die Sonne dort unter. Mein Weg hinab führt zu einer offenen Stelle, die das Wasser ahnen lässt. Die Blätter heben sich vom Dunkelgrau des Himmels als schwarze Konturen ab.

Kein Wind, keine Wellen. Vom gegenüberliegenden Ufer höre ich leises Blätterrascheln. Ab und zu das Platschen eines größeren Fisches. Hier war die Drahtsperre, direkt durch den See. Gegenüber der Wachturm. „Wir gehen hier nicht baden, obwohl es so nett aussieht. Keiner weiß, was da noch im Wasser ist“, so sagt mir der Einheimische. Die Bäume hier unten haben noch dünne Stämme. Buchen und Birken, so hoch gewachsen, wie es in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren eben ging. Mit der Taschenlampe finde ich im Unterholz immer wieder Mauerreste. Sie liegen zwischen den neuen Bäumen, von Gestrüpp, Gräsern und Blättern bedeckt.

Die Entstehung von Lankow ist auf 1209 datiert. Jüngere Ausgrabungen verweisen aber auf eine wohl zehntausend Jahre alte Siedlungsgeschichte. 1942 hatte Lankow 59 Einwohner. 1946 gab es hier mit den Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten über hundert Menschen. Jetzt ist niemand hier, ich bin vollkommen allein. Tagsüber sieht man ein paar Angler und öfter auch Freunde seltener Tierarten. Die ehemalige Grenze als Grünes Band und Biosphärenreservat. Ich starre auf den See. Es fällt Nieselregen, so dicht, dass man das Ufer gegenüber nicht mehr sieht. Und schnell ist es stockfinster, nirgendwo Licht, die Gegend ist dünn besiedelt. Ich gehe wieder den Hang hinauf in Richtung Gedenkstein. Wenn meine Taschenlampe leuchtet, versinkt alles um mich herum, und das, was ich sehe, bleibt übrig von der Welt.

Hochgewachsenes Blattwerk und tiefe Suhlkuhlen von Wildschweinen auf dem Weg. Es scheint so, als würde das gelebte Leben erst spürbar, wenn nichts mehr davon vorhanden ist. Orte wie diese strahlen etwas Beunruhigendes aus. Man spürt es fast körperlich. Ich frage mich, woher das kommt. Würde ich es bemerken, wenn ich einfach so hier wäre, nur zur Erholung? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall aber wird mit zunehmendem Wissen über den Ort seine Aura stärker. Sie ist also nicht allein da, sondern sie scheint auch direkt an die Vorstellungskraft gekoppelt zu sein.

Schemenhaft stehen zwei Frauen in hellen Kleidern vor einem Bauernhaus mit stattlich großen Fenstern. Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Zu hell, wie überbelichtet. Das Kleid der einen ist knielang, das der anderen endet über dem Knöchel. Schlichte Schnitte, die mich das Bild im Früher, nach dem Ersten Weltkrieg, verorten lassen. Ihr Haus stand ganz vorn vor dem Abhang. Dieses Bild auf der Gedenktafel hat mich berührt, weil es den Ort und die Zeit spürbar werden lässt. Weil es die Vergangenheit öffnet. Sind es Mutter und Tochter? Menschen stellen gern Angehörige vor ihr Haus, wenn sie es fotografieren. „Familie Schmidt, Vollbauernstelle, 62,5 ha“ steht daneben auf der Tafel, ein Foto etwas weiter unten ist mit „Gastwirtschaft und Fischerei Steding“ betitelt.

In Schlagsdorf, nicht weit von hier, gibt es ein Museum. Dort läuft ein Dokumentarfilm: Eine alte Frau, sie heißt Erika Steding, geht durch Lankow. „An den Fliederbusch kann ich mich noch erinnern, weil ich den gepflanzt habe.“ Dann wird sie unsicher. „Wie kommen die Bäume denn von hierhin nach dahin?“ Sie kratzt schwer atmend mit ihrer grauen Krücke das Gras und den Sand weg. Findet Beton darunter. Beeindruckend – das kräftige Stoßen mit der Krücke: Die Vergangenheit bloßlegen. Die Arme waren ihr ganzes Leben Zupacken gewohnt. Sie findet noch etwas Eisernes im Gras. „Ja, das ist noch der letzte Rest vom Kuhstall, so eine Kuhkette … Das war ja noch ein gut erhaltenes Gebäude. Jetzt ist alles weg. Aber was soll’s!“ Sie ist beruhigt, dass es das Früher nachweislich und anfassbar gegeben hat.

An schwierig zu bewachenden Grenzstücken gab es Hundelaufanlagen. Die Hunde waren an ein Laufseil aus Stahl gekettet, das ihnen zwischen fünfzig und hundert Metern Bewegungsspielraum gestattete. Durstig gehalten, damit sie aggressiv blieben. Der Mann aus dem Nachbardorf: „Die Hunde waren so bissig, da haben sich die Grenzer selber nicht mehr reingetraut. Mit einer langen Stange haben sie denen Futter gebracht, und wenn sich einer losgemacht hat, ist der sofort auf die anderen gestürzt.“ Sie blieben ihr Leben lang in der Anlage, bis zu zehn Jahre, wenn sie nicht vorher verdursteten, verhungerten oder sich am Laufseil erhängten.

Ilse Witt, auch eine ehemalige Einwohnerin: „Vier- bis fünfhundert Jahre sind wir schon in Lankow. Dann kamen die Alteinsässigen alle weg. Meine Schwester hat das Drama ja miterlebt, wie sie aufgeladen wurden: zwanzig große Lastautos.“ Mit dem Vater machte sie noch einen letzten Rundgang. Der Vater hatte Tränen in den Augen: „Lass die dat nich merken, wie bidder uns dat tut.“ Er starb aus Heimweh schon ein Vierteljahr später.

1972 war das Dorf leergezogen. In der Silvesternacht gab es erste Sprengungen, man wollte, dass das Zerstörungswerk sich mit den Geräuschen der Neujahrsbegrüßung in anderen Dörfern mischte und so unkenntlich wurde. Man brauchte ein freies Schussfeld. 1976 gab es den Ort nicht mehr.